Klaus Dörner

Bürger und Irre


Скачать книгу

abgelöst hätte; dies anzunehmen wäre unhistorisch. Vielmehr sind die modernen Kolonisierungsbestrebungen der markwirtschaftlichen, instrumentellen Individualvernunft weiterhin wirksam. Aber neben diese sind die ebenso wirksamen Entkolonisierungsbestrebungen der romantischen (?) Sozialvernunft getreten und nehmen trotz ständiger Rückschläge an Wirksamkeit bis heute zu.

      Noch einmal zurück zur Psychiatriereform. Die Geschichte der Psychiatrie ist voller Reformen, zeigt aber auch, daß reformerische Begeisterung verpufft, wenn sich deren Energie nicht in jahrzehntelanges geduldiges Bohren harter Bretter stecken läßt. »Bürger und Irre« zeigt, warum das so ist und so sein muß. Die Ausgrenzung der Unvernunft, die Institutionalisierung der marktwirtschaftlich-industriell nicht verwertbaren Bevölkerungsgruppen als Antwort auf die »Soziale Frage« war im Aufbruch zur Moderne offenbar eine gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit, eine Problemlösung, an der alle geistigen, kulturellen, ökonomischen, sozialen und politischen Bereiche der Gesellschaft beteiligt waren und durch die alle diese Bereiche verändert, modernisierbar wurden. Diese Problemlösung hat für 150 Jahre, von 1800 bis 1950, die Modernität der Gesellschaft garantiert. Allein daraus ergibt sich schon, daß die Bewegung der De-Institutionalisierung alle Bereiche der Gesellschaft berühren und verändern muß, bis sie nicht mehr modern, sondern vielleicht postmodern sind. Dabei ist aber eine unvollständige De-Institutionalisierung sinnlos: Die Institutionen würden sich wieder vervollständigen. In Betracht kommt nur eine vollständige De-Institutionalisierung, also eine vollständige Wiederherstellung der Begegnungsmöglichkeiten von Vernunft und Unvernunft, von Vernünftigen und Unvernünftigen, wobei das Rad der Geschichte nicht zurück, sondern nur nach vorn gedreht werden kann. Die früher tragfähige Institution der Familie ist für das Grundbedürfnis des Wohnens chronisch psychisch Kranker nicht wieder tragfähiger zu machen. Der gegenwärtige Typ des modernen Wirtschaftsbetriebes ist für das Grundbedürfnis des Arbeitens chronisch psychisch Kranker nicht wieder integrationsfähig zu machen. Das bedeutet für die heutigen Reformer, daß für das Grundbedürfnis des Wohnens chronisch psychisch Kranker die kommunale Selbstverwaltung der zeitgemäße Ersatz für die Familie zu werden hat. Kommunalisierung der Psychiatrie ist angesagt. Für das Grundbedürfnis des Arbeitens, das alle chronisch psychisch Kranken wie alle anderen Menschen haben und notwendig brauchen, wie wir heute wissen, bedeutet das, daß die psychiatrisch Tätigen selbst Unternehmer werden und Arbeitsplätze schaffen müssen. Nur weil wir in Gütersloh diese beiden Wege gegangen sind, ist es uns gelungen, den Prozeß der De-Institutionalisierung fast abgeschlossen zu haben. Die Anstalt ist aufgelöst. Fast alle chronisch psychisch Kranken sind entlassen, geblieben ist eine Klinik für akute psychische Krisen. Etwa 400 chronisch psychisch Kranke mit Aufenthaltszeiten in der Anstalt von bis zu 50 Jahren sind in normale Wohnungen entlassen worden, 100 sind in ihre Heimatgemeinden zurückgekehrt, 300 sind über die Stadt Gütersloh verstreut angesiedelt worden, 80% von ihnen ohne Hilfen oder mit den ambulanten Hilfen des »betreuten Wohnens«, 20% wegen ihres Betreuungsbedarfs zwar auch in normalen Wohnungen, aber mit Heimstatus. Tragfähige Lebens-weiten für den je einzelnen psychisch Kranken konnten daraus aber nur dadurch werden, daß wir uns auf die Unternehmerseite geschlagen und Arbeitsplätze für sie geschaffen haben: 100 Arbeitsplätze in Selbsthilfefirmen, 120 Teilzeitarbeitsplätze in Zuverdienstfirmen und 70 Arbeitsplätze in einer Werkstatt für Behinderte. Die De-Institutionalisierung und damit die Emanzipation der psychisch Kranken läßt sich nur vervollständigen, wenn nicht nur die Integration hinsichtlich des Wohnbedürfnisses in der Kommune, sondern auch die Integration hinsichtlich des Arbeitsbedürfnisses in der Wirtschaft gelingt. Insofern ist »Bürger und Irre« auch an dieser Stelle weiterzudenken: Die Psychiatrie, wenn sie denn die De-Institutionalisierung vervollständigen will, ist nicht eine Emanzipations- oder Integrationswissenschaft, sondern sie erreicht ihr Ziel erst, indem sowohl Emanzipation als auch Integration so gut gelingen, daß sie schadlos zusammenfallen. De-Institutionalisierung verlangt also die gleichsinnige soziale und ökonomische Weiterentwicklung der Gesellschaft.

      3.

      Das Programm von »Bürger und Irre« war und ist aber nicht nur die Selbstaufklärung der Psychiatrie als Institution, sondern auch als Wissenschaft. Dies ist hilfreich, nachdem seit 1980 eine jüngere Generation in der Lage war, sich endlich auch der Frage zu stellen, wie es möglich war, daß während des Dritten Reiches so viele psychiatrisch Tätige sich in die NS-Vernichtungsprogramme psychisch kranker und geistig behinderter Menschen integrieren ließen, obwohl sie vermutlich nicht besser oder schlechter waren als wir. Die Reform-Engagierten wurden zugleich Geschichts-Engagierte, was der Verantwortlichkeit der Durchführung der Reform, dem »langen Marsch durch die Institutionen« gut getan hat. Es begann damit, daß inzwischen wohl in jedem psychiatrischen Krankenhaus, in jeder Anstalt, eine Gruppe von Mitarbeitern sich mit der Selbstaufklärung der Einrichtung während der NS-Zeit beschäftigte. Daraus entstand eine neue Literaturgattung, die innerhalb von 10 Jahren in einer Bibliothek mehr als drei Meter umfassen würde. In einem »Arbeitskreis zur Erforschung der NS-Euthanasie« treffen sich die Beteiligten bis heute, um als historische Laien sich mit professionellen Historikern auszutauschen, zumal bald deutlich wurde, daß die professionelle Geschichtsschreibung, auch die Zeitgeschichte, in Fortsetzung der Ausgrenzungspolitik der modernen Gesellschaft gerade diejenigen 10% der Bevölkerung aus ihrem Gesellschaftsbegriff ausgeklammert hatte, die die Zielgruppen der NS-Vernichtungspolitik waren, also u. a. psychisch Kranke, geistig Behinderte, Körperbehinderte, Suchtkranke, Homosexuelle, das kaum abgrenzbare Heer der sogenannten »Asozialen« (»Lumpenproletariat«) sowie Sinti und Roma. Unsere, wenn auch späte, Solidarisierung mit ihnen führte dazu, daß Vertreter dieser Gruppen 1987 erstmals vor dem zuständigen Ausschuß des Bundestages selbst für sich sprechen konnten, was zu ihrer Anerkennung als Verfolgte, wenigstens zweiter Klasse, und zur Zuerkennung gewisser Entschädigungsleistungen führte.

      Damit war klar, daß die offizielle Geschichtsschreibung aufgrund ihrer Ausgrenzung der leistungsschwachen Teile der Bevölkerung etwas vom Wesen des Nationalsozialismus nicht hat erkennen können, wenn nicht gar vom Wesen der Moderne. So kann man etwa erst seit 1993 in deutscher Sprache lesen, daß der Übergang vom handwerklichen zum industriellen Morden durch Vergasen von den Nazis schon im Oktober 1939 vollzogen wurde, und zwar anhand von polnischen psychisch Kranken im Fort VII der Befestigungsanlagen von Posen (Z. Jaroszewski: Die Ermordung der Geisteskranken in Polen 1939–1945 Warschau 1993, zu beziehen über den Verlag Jakob van Hoddis, Gütersloh). Darüber hinaus wurde es dem Euthanasie-Arbeitskreis immer klarer, daß man die Verbrechen der Nazis nur begreifen könne, wenn man deutlich weiter in die Geschichte zurückgehen würde. Auf dieser Spurensuche landeten wir schließlich, ähnlich wie in derselben Zeit auch Zygmunt Bauman (Dialektik der Ordnung, Europäische Verlagsanstalt Hamburg 1992), in der Zeit um 1800, also in derjenigen Zeit, in der die Entstehung der Psychiatrie sich inzwischen als Symptom des Beginns der Moderne herausgestellt hat. Unsere Gedanken hierzu, mit denen wir einen Aspekt von »Bürger und Irre« weiter ausgearbeitet haben, habe ich in »Tödliches Mitleid« (Verlag Jakob von Hoddis, Gütersloh 1993) zusammengefaßt. In der gebotenen und damit vereinfachenden Kürze geht es dabei um folgendes: Der Urknall, mit dem die Energien der aufklärerischen Vernunft die alte ständisch-feudale Ordnung in zumindest drei wesentliche Spaltprodukte sprengte oder weiterentwickelte und damit die Moderne ermöglichte, begann damit, daß man in Anwendung der instrumentellen Vernunft die leistungsstärkeren Menschen aus ihren tradierten Bindungen löste, in denen sie immer zugleich produktiv und sozial tätig waren, um sie in menschheitsgeschichtlich erstmals eigens dafür gebauten Institutionen (Fabriken, später Büros) familienfern den ganzen Tag nur noch produktiv tätig sein zu lassen. Bis dahin hatte es im landwirtschaftlichen und handwerklich-gewerblichen Bereich praktisch nur Heimarbeit gegeben. Jetzt gab es mit der zumindest täglichen Trennung vom familiären Verband Arbeitswege. Diese Herauslösung des produktiven Tuns aus dem gelebten Leben, wogegen die Menschen sich nach Kräften, aber vergeblich, wehrten, war der Kern der Entfremdung der Arbeit. Diese zweckrationale Operation, durch die die Produktivität sich ins Unermeßliche steigern ließ, veränderte alles. Insbesondere die Leistungsschwächeren, also z. B. die psychisch Kranken, geistig Behinderten, Körperbehinderten, Alten, die bisher im alten »Haushalt« im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der heimischen Produktion beteiligt waren, im übrigen aber von den Leistungsstarken soziale Fürsorge und, falls nötig durchaus nicht zimperlich, soziale Kontrolle erfuhren, konnten nun nicht von den familiären und nachbarschaftlichen Verbänden