Klaus Dörner

Bürger und Irre


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bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie in der inneren Ökonomie ihrer Mitglieder.

      Thema und Absicht der Untersuchung verlangen es, zugleich sozialhistorisch und soziologisch vorzugehen, wobei Soziologie als historische und vergleichende Disziplin sowie als Wissenschaftssoziologie anzuwenden ist. Da Psychiater und Soziologen – namentlich im deutschsprachigen Bereich – weitgehend verschiedene Sprachen sprechen, mögen einige vorklärende Ausführungen für das gegenseitige Verständnis nützlich sein. Der Leser, dem dies überflüssig erscheint, kann dieses Kapitel ohne großen Verlust überschlagen und bei I, 3 weiterlesen.

      Jede der beiden Wissenschaften Psychiatrie und Soziologie hat sich daran gewöhnt, sich auf die begriffliche Autorität der jeweils anderen zu stützen. Wie die Psychiatrie soziologische – besser: epidemiologische, sozialstatistische und sozialfürsorgerische – »Gesichtspunkte« berücksichtigt, so bedienen sich fast alle soziologischen Schulen, namentlich seit Freud, psychiatrischer Begriffe, die vielerorts nachgerade die Analyse in ökonomischen Kategorien ersetzen. Hieraus resultierte für die Soziologie ein bedenklicher Irrtum: sie identifizierte unbesehen Psychoanalyse mit Psychiatrie überhaupt. Verdeckt blieb dabei, daß die Psychoanalyse ein wie immer bedeutendes, aber eher spätes Produkt des zur Zeit Freuds hundert- bis hundertfünfzigjährigen wissenschaftlichen psychiatrischen Denkens ist. Verdeckt blieb die bereits lange in Gang befindliche Ablösung der Psychiatrie von der Philosophie und von der ursprünglich ganzheitlichen Medizin, ähnlich die ebenso problematische Emanzipation der Soziologie von Philosophie und Ökonomie. Diese unhistorische, verengte Sicht leistete einem soziologischen Verständnis der Gesamtrealität der Psychiater Vorschub, das die beiden Symbole, Anstalt und Couch, entweder beziehungslos nebeneinanderstellt oder naiv den Sieg der Couch über die Anstalt feiert.

      Diese Entwicklung entsprach der einer Soziologie, die ihrerseits zwischen Durkheim, Max Weber und Mannheim einen Prozeß der Repsychologisierung durchlief, sich zur Theorie der zwischenmenschlichen Beziehungen formalisierte und insbesondere in den USA den »subjektiv gemeinten Sinn« mit dem agierenden gesellschaftlichen »System« zu harmonisieren verstand.