Klaus Dörner

Bürger und Irre


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von Gegenständen in eine phänomenale Begrifflichkeit bzw. in eine je eigene »Welt« trägt Plessner vor: »Die Leiblichkeit als ein Strukturmoment der konkreten Existenz, mit der sie sich auseinandersetzen muß und die sie in den verschiedenen Modi der Zuständlichkeit und Widerständlichkeit durchzieht, wird nicht als Körper zum Problem. Das überläßt man der Biologie und den organischen Naturwissenschaften.«28

      Die Psychiatrie hat es in ganz besonderer Weise mit »Frakturen von Sinn« im menschlichen Denken und Handeln zu tun. Daher und im historischen Zusammenhang mit der »sozialen Frage« stellt Psychiatrie gewissermaßen eine Soziologie noch vor der Etablierung der Soziologie als Wissenschaft dar. Unsere wissenschaftssoziologische Frage kann also nicht mehr bloß formal lauten, wie bestimmte Extreme menschlichen Denkens und Handelns als besondere gesehen und damit zum Gegenstand einer Wissenschaft werden konnten, sondern sie muß heißen: Wie konnten diese Extreme zu einem bestimmten Zeitpunkt als konkrete gesellschaftliche Not und Gefahr – bedrückend und bedrohlich-faszinierend – sichtbar und wichtig werden? Wie war die Gesellschaft beschaffen, ihre Öffentlichkeit, ihr ökonomisches Entwicklungsstadium, ihre moralischen Normen, ihre religiösen Vorstellungen, der Anspruch ihrer politischen, juristischen und administrativen Autoritäten, damit hier ein (Ordnung und Aufklärung) forderndes Problem hervortreten konnte? Welche gesellschaftlichen Bedürfnisse waren derart zwingend, daß man mit einem Mal bereit war, viel Geld auszugeben, um ein mehr oder weniger umfassendes Versorgungssystem, die Institution Psychiatrie, zu schaffen? Und wie argumentierten das wissenschaftliche und das philosophische Denken zur selben Zeit, um diesem sichtbar gewordenen Bedürfnis und Anspruch zu genügen, um teils aus der Praxis dieser neuen Institution, teils ›freischwebend‹ dem Kanon der wissenschaftlichen Disziplinen ein neues Element einzufügen? Alle weiteren Fragen folgen aus diesen.