von Gegenständen in eine phänomenale Begrifflichkeit bzw. in eine je eigene »Welt« trägt Plessner vor: »Die Leiblichkeit als ein Strukturmoment der konkreten Existenz, mit der sie sich auseinandersetzen muß und die sie in den verschiedenen Modi der Zuständlichkeit und Widerständlichkeit durchzieht, wird nicht als Körper zum Problem. Das überläßt man der Biologie und den organischen Naturwissenschaften.«28
Zum Begriff der Wissenschaft gehört aber beides, nicht nur die fortschreitende Stabilisierung ihrer selbst und durch sie ihrer Gesellschaft (in technischer Beherrschung, Systembildung wie in Sinngebung); zu ihr gehört auch die fortschreitende Aufklärung ihrer selbst und ihrer Gesellschaft. Ein solches objektiv sinnverstehendes Denken bleibt nicht bei dem durch das Bewußtsein der handelnden Individuen vermittelten subjektiven Verständnis stehen. Es »scheidet die Dogmatik der gelebten Situation nicht einfach durch Formalisierung aus, freilich überholt es den subjektiv vermeinten Sinn gleichsam im Gang durch die geltenden Traditionen hindurch und bricht ihn auf«.29 Solche Soziologie ist nur als auch historische möglich. »Im grundsätzlichen Unterschied zur Wissenssoziologie erhält sie ihre Kategorien aus einer Kritik, die zur Ideologie nur herabsetzen kann, was sie in deren eigener Intention erst einmal ernstgenommen hat.« Objektiv und nicht subjektiv sinnverstehend ist sie, insofern sie es »mit Frakturen von Sinn, in Hegels Sprache: mit dem Mißverhältnis des Existierenden und seines Begriffs zu tun hat«.30
Die Psychiatrie hat es in ganz besonderer Weise mit »Frakturen von Sinn« im menschlichen Denken und Handeln zu tun. Daher und im historischen Zusammenhang mit der »sozialen Frage« stellt Psychiatrie gewissermaßen eine Soziologie noch vor der Etablierung der Soziologie als Wissenschaft dar. Unsere wissenschaftssoziologische Frage kann also nicht mehr bloß formal lauten, wie bestimmte Extreme menschlichen Denkens und Handelns als besondere gesehen und damit zum Gegenstand einer Wissenschaft werden konnten, sondern sie muß heißen: Wie konnten diese Extreme zu einem bestimmten Zeitpunkt als konkrete gesellschaftliche Not und Gefahr – bedrückend und bedrohlich-faszinierend – sichtbar und wichtig werden? Wie war die Gesellschaft beschaffen, ihre Öffentlichkeit, ihr ökonomisches Entwicklungsstadium, ihre moralischen Normen, ihre religiösen Vorstellungen, der Anspruch ihrer politischen, juristischen und administrativen Autoritäten, damit hier ein (Ordnung und Aufklärung) forderndes Problem hervortreten konnte? Welche gesellschaftlichen Bedürfnisse waren derart zwingend, daß man mit einem Mal bereit war, viel Geld auszugeben, um ein mehr oder weniger umfassendes Versorgungssystem, die Institution Psychiatrie, zu schaffen? Und wie argumentierten das wissenschaftliche und das philosophische Denken zur selben Zeit, um diesem sichtbar gewordenen Bedürfnis und Anspruch zu genügen, um teils aus der Praxis dieser neuen Institution, teils ›freischwebend‹ dem Kanon der wissenschaftlichen Disziplinen ein neues Element einzufügen? Alle weiteren Fragen folgen aus diesen.
3. Methoden der Untersuchung
Nachdem der Gegenstand der Untersuchung bestimmt ist, der Rahmen, in dem er gesehen, und der kritische Anspruch, an dem er durch die Geschichte verfolgt werden soll, bleibt zu klären, woher und wie Material für die Analyse gewonnen werden kann. Gerade weil wir uns mit der Entstehung der Psychiatrie beschäftigen, folgen wir – soweit möglich – Thomas S. Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (1965), worin der Glaube an eine einlinige, kumulative Entwicklung der Wissenschaften einer Kritik unterzogen wird. Für Kuhn entsteht eine Wissenschaft, wenn in der (philosophischen) Diskussion eines Gegenstandsbereichs, verbunden mit einer exemplarischen konkreten Leistung, ein Modell, ein »paradigm«, zur Herrschaft kommt, das 1. für die meisten akuten Probleme offen ist, 2. für eine größere Gruppe (»community«) den weiteren Streit über Fundamentalfragen beendet, aus dem 3. einzelne Theorien, Methoden, Aspekte und Gesetze erst abgeleitet werden, und das 4. wissenschaftliche Institutionen (Berufsstand, Arbeitsort, Zeitschrift, Verein, Lehrbuch, Lehrmöglichkeiten) erst etabliert. Wissenschaftliche Entwicklung vollzieht sich durch Revolutionen, die den politischen durchaus vergleichbar sind, d. h. durch Austausch der Anschauungen (»view of the world«), so daß nicht nur die Theorien, sondern auch die Tatsachen neu betrachtet und konzipiert werden. Die Voraussetzung dafür ist eine Krise, die das alte Paradigma destruierende Einsicht, daß es wesentlichen neuen Problemen und Bedürfnissen gegenüber versagt. Die Folge davon ist eine Diskussion in der Öffentlichkeit zwischen dem alten und dem neuen, alternativen Paradigma-Kandidaten. Das siegreiche Paradigma verspricht, den neuen Bedürfnissen »adäquater« zu sein, wobei politische Autoritäten, individuelle Überzeugungskraft, philosophische Überlegungen, ja ästhetische Adäquanzgefühle durchaus mit eine Rolle spielen können.31
Dieser Deutungsansatz ist allerdings auf die Psychiatrie nur partiell anwendbar, da er an den reinen Naturwissenschaften entwickelt wurde. Kuhn weiß selbst, daß die Situation etwa der Medizin, der Technik, des Rechts komplizierter ist, da diese Wissenschaften ihre Forschungsprobleme nicht nach eigenem Belieben wählen, sondern sie nach ihnen äußerlichen, gesellschaftlich dringlichen Bedürfnissen zudiktiert bekommen.32 Wir benutzen deshalb sein formalistisches Schema lediglich als technisches Hilfsmittel des zwischengesellschaftlichen Vergleichs von Entwicklungsstufen. Gerade die Psychiatrie ist mit zahlreichen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedürfnissen verflochten, von deren Druck sie von Beginn an abhängig war33; und der Grad dieser Verflochtenheit ist eher gestiegen, so daß ihr heute allgemein die Aufgabe zugewiesen wird, als »human engineering« soziale Angst verschwinden zu machen.34 Kritisch gilt jedenfalls auch für die Psychiatrie, »daß der vom Subjekt veranstaltete Forschungsprozeß dem objektiven Zusammenhang, der erkannt werden soll, durch die Akte des Erkennens hindurch selber angehört«35, daß »das erkennende Subjekt aus den Zusammenhängen gesellschaftlicher Praxis« zu begreifen ist.36
Angesichts solcher Komplexität ist es ausgeschlossen, sich einem ressortspezifischen Methodenkanon anzuvertrauen. Vielmehr ist einem Verfahren zu folgen, das Habermas anläßlich der Analyse eines ähnlich komplexen Gegenstandes, der bürgerlichen Öffentlichkeit, beschrieben hat: Die Methode der Analyse des »epochaltypisch« gefaßten Gegenstandes ist, gegenüber der formalen Soziologie, historisch, d. h. nicht idealtypisch verallgemeinernd und nicht auf formal gleiche Konstellationen beliebiger historischer Lagen übertragbar; zugleich ist sie, gegenüber der Historie, soziologisch, da Einzelnes nur exemplarisch, als Fall einer gesellschaftlichen Entwicklung interpretiert werden kann. »Von der Übung strenger Historie unterscheidet sich dieses soziologische Vorgehen durch eine, wie es scheint, größere Ermessensfreiheit gegenüber dem historischen Material; es gehorcht indessen seinerseits den ebenso strengen Kriterien einer Strukturanalyse gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge.«37 Diesem soziologischen Verfahren kommt die heutige Sozialgeschichte entgegen, wie sie von Conze und H. Mommsen38 betrieben wird und die als ihre Methoden die der Begriffsgeschichte, Biographie und Statistik angibt.
Es kam für uns nun darauf an, dem historischen Verstehen eine tragfähige Unterlage zu geben, d. h. möglichst viele Details des verfügbaren Materials in eine kausale oder vergleichende Erklärung einzubeziehen bzw. wenigstens ansatzweise zu quantifizieren. Prioritäten wissenschaftlicher Leistungen etwa, einst Streitpunkte bürgerlichen Nationalstolzes, erhalten hier wieder eine relative Bedeutung im Zusammenhang des Vergleichs des Entwicklungsstandes einer Gesellschaft und ihrer Psychiatrie. Es war der Entwicklung der psychiatrischen Institutionen nachzugehen : der Anstalten, der Lehrbücher, Vereine, Zeitschriften, der Kommunikation der