ob diese nun als Armut, als Irresein oder als beides zugleich sich äußerte, machte. Beide Wissenschaften begannen als Bewältigungsversuche der durch die bürgerlichen und industriellen Revolutionen bedingten sozialen Krise, sind insofern Krisenwissenschaften. Diese Gemeinsamkeit legen wir unserer Untersuchung zugrunde, da es nichts nützen würde, wenn wir uns bei der soziologischen Analyse der Psychiatrie lediglich auf deren gesellschaftliche Bedingtheiten stützten. Vielmehr benötigen wir statt eines solchen reduktionistischen Konzepts einen historisch und philosophisch reflektierten soziologischen Ansatz. Wir glauben ihn in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung gefunden zu haben. Aufklärung wird dort kritisch verstanden als »Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt«7, die Materie, der »Illusion waltender oder innewohnender Kräfte, verborgener Eigenschaften« beraubt, als Chaos und daher der bemächtigenden Synthese bedürftig erkannt.8 Werden Herrschaft und Selbstbeherrschung, zwanghafte Selbsterhaltung, »Beherrschung der Natur drinnen und draußen zum absoluten Lebenszweck«, dann erscheint alles, was dem ordnenden und verfügenden Zugriff sich entzieht, was außerhalb bleibt, als »absolute Gefahr« für die Gesellschaft, als Quelle der Angst und wird deshalb mit dem Stigma der Irrationalität, der Unvernunft versehen und ausgegrenzt9: »die unerfaßte, drohende Natur«; »die rein natürliche Existenz«; Instinkte, Phantasie und theoretische Einbildungskraft; »Promiskuität und Askese, Überfluß und Hunger [...] als Mächte der Auflösung«; das Unverbindbare, der Sprung, die Vielheit, das Inkommensurable, weggeschnitten von »der universalen Vermittlung, dem Beziehen jeglichen Seienden auf jegliches«; »das Unbekannte«, das »in der vorwegnehmenden Identifikation zum Altbekannten gestempelt wird«; »noch die letzte unterbrechende Instanz zwischen individueller Handlung und gesellschaftlicher Norm«, die der Positivismus beseitigt; »der Selbstvergessene des Gedankens wie der der Lust«; die allgemeine »Angst, das Selbst zu verlieren«, die besteht, solange Selbsterhaltung, Identitätsfindung das allein herrschende gesellschaftliche Prinzip sind.10 Allen diesen Ausdrucksformen des bürgerlich Unvernünftigen werden wir als Äußerungen der Unvernunft des Irreseins wiederbegegnen. Jedenfalls markieren sie den Gegenstandsbereich der Psychiatrie, jene als inkommensurable und daher als unvernünftig bezeichneten ›Abfallprodukte‹ und Korrelate des fortschreitenden Aufklärungs-, Rationalisierungs- und Normierungsprozesses. Genau dies kennzeichnet die Dialektik der Psychiatrie. Hat sie das Irrationale der Rationalisierung zuliebe zu verdecken oder es aufzudecken, es einzuordnen oder es aufzuklären? Denn verdankt sie sich selbst auch dem sich totalisierenden Prozeß der Aufklärung sowie dessen Gegenbewegung, der Romantik, so steht sie doch zugleich unter dem unaufhebbaren Anspruch der Aufklärung: »Einlösung der vergangenen Hoffnung«11; Freilegung des Unbekannten selbst, auch gegen die rationale Angst, die dies erzeugt; »die Herrschaft bis ins Denken hinein als unversöhnte Natur zu erkennen« und so die »Verwechslung der Freiheit mit dem Betrieb der Selbsterhaltung« zu lockern12, indem die »Frakturen von Sinn«13 durchgehalten und einbegriffen und nicht als unvernünftig ausgeblendet werden.
Innerhalb dieses beiden Wissenschaften gemeinsamen Rahmens ist unsere Untersuchung notwendig, wenn immer es stimmt, daß »das gesellschaftliche Selbstverständnis der Wissenschaft [...] im Begriff der Wissenschaft selbst als Forderung enthalten«14 ist, und sie hat ihr Wahrheitskriterium am dialektischen Begriff von Aufklärung.
Inwieweit haben nun die neueren historisch-theoretischen Darstellungen der Psychiatrie sich mit den hier beschriebenen Aufgaben beschäftigt? Diese Frage steht im Mittelpunkt des ersten Abschnitts des Anhangs.15 Die Ausbeute ist gering, obschon seit 1969, dem Erscheinen der 1. Auflage dieses Buches, erfreulicherweise größer geworden. Es folgt daraus, daß unsere Untersuchung vorwiegend deskriptiv-historisch vorgehen, psychiatrisches Denken und Handeln und deren Zusammenhang erst ausbreiten und bekanntmachen muß. Außerdem ergibt sich daraus, welche Aspekte der Psychiatrie ausgeblendet, einseitig dargestellt oder ideologisch nicht mit ihrem eigenen Anspruch konfrontiert worden sind, woran umgekehrt deutlich wird, in welcher erweiterten (oder auch beschränkenden) Weise der Gegenstand unserer Untersuchung zu sehen und zu reflektieren ist.
Daß die Kritik des naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses der Psychiatrie nur da berechtigt ist, wo es ideologisch zur Absicherung theoretischer Meinungen und politischer Ziele mißbraucht wird, ist bereits gesagt worden. Die anthropologische Fundierung der Psychiatrie, namentlich der frühen Nachkriegszeit, ist leider mehr oder weniger folgenlos geblieben, zugunsten einer insgesamt technokratisch verkürzten Wahrnehmung psychischen Leidens. Diesen anthropologischen Denkansatz aufzugreifen und zu beerben steht noch bevor. Erst dann wäre die Abgrenzung zwischen dem, was naturwissenschaftlich zu erklären, und dem, was geisteswissenschaftlich zu verstehen ist, möglich. Dasselbe gilt für die Frage, wann Leiden zu verändern und wann es zu akzeptieren ist. Anders formuliert: Wann handelt der Psychiater als Mediziner und wann als Arzt? Wann handelt er therapeutisch, wann pädagogisch? Noch anders: Wird psychiatrisches Handeln nicht erst jenseits von »Therapie«, in der Konfrontation mit »Unheilbaren« interessant?15 Totalitär und menschengefährdend kann beides sein: erklären, wo es nichts zu erklären gibt, und verstehen, wo es nichts zu verstehen gibt.16 Weil das so ist, sind auch die bisherigen Ansätze der Psychiatriegeschichtsschreibung unzureichend, sowohl das ideengeschichtliche Verfahren in der Absicht, »die Tätigkeit des Menschen in der Gesellschaft über die Grenzen des Momentes und des Ortes zu erheben«17, als auch das kulturgeschichtliche (Kirchhoff, Birnbaum). Daher hat nach der Zeit des Nationalsozialismus die Nachkriegs-Sozialgeschichte die Kulturgeschichte als abstraktes Korrelat der Machtgeschichte kritisiert.18 Daher ist auch der Weg der deutschen Wissenssoziologie, wie er von Dilthey gebahnt, von Mannheim beschritten wurde und heute von Gadamer19 fortgesetzt wird, in Frage gestellt worden. Unsere Bedenken entsprechen der in den letzten Jahren geübten Kritik an der Wissenssoziologie, so von Lenk20, Plessner21, Wolff22, Lieber23, Hofmann24 und Habermas25.
Wurde im 18. Jahrhundert die Verhinderung von Erkenntnis der Niedertracht der Herrschenden (Priestertrug-Theorie) bzw. dem subjektiven Vorurteil zugeschrieben, so galt sie im 19. Jahrhundert als objektiv notwendige Ideologie, gemessen an den jeweiligen Schranken des naturwissenschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Fortschritts. Im 20. Jahrhundert führt das zur Selbstunterwerfung der Erkenntnis und des Urteils unter die Sinnkontinuität des geschichtlich gewordenen Vorurteils, zur selbsttätigen Anpassung an die Gegebenheiten.26 »Indem die Philosophie ihren Ausgangspunkt, das ›In-der-Welt-Sein‹ des Menschen, selbst wieder auf seine Existenzialien oder bleibenden Bestimmungen hin abfragt, verliert sie Geschichte und Gesellschaft als je konkreten Prozeß entweder ganz aus dem Blick, oder aber sie gerinnen ihr begrifflich zu so etwas wie ›Geschichtlichkeit‹ und Soziabilität‹.«