Klaus Dörner

Bürger und Irre


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ob diese nun als Armut, als Irresein oder als beides zugleich sich äußerte, machte. Beide Wissenschaften begannen als Bewältigungsversuche der durch die bürgerlichen und industriellen Revolutionen bedingten sozialen Krise, sind insofern Krisenwissenschaften. Diese Gemeinsamkeit legen wir unserer Untersuchung zugrunde, da es nichts nützen würde, wenn wir uns bei der soziologischen Analyse der Psychiatrie lediglich auf deren gesellschaftliche Bedingtheiten stützten. Vielmehr benötigen wir statt eines solchen reduktionistischen Konzepts einen historisch und philosophisch reflektierten soziologischen Ansatz. Wir glauben ihn in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung gefunden zu haben. Aufklärung wird dort kritisch verstanden als »Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt«7, die Materie, der »Illusion waltender oder innewohnender Kräfte, verborgener Eigenschaften« beraubt, als Chaos und daher der bemächtigenden Synthese bedürftig erkannt.8 Werden Herrschaft und Selbstbeherrschung, zwanghafte Selbsterhaltung, »Beherrschung der Natur drinnen und draußen zum absoluten Lebenszweck«, dann erscheint alles, was dem ordnenden und verfügenden Zugriff sich entzieht, was außerhalb bleibt, als »absolute Gefahr« für die Gesellschaft, als Quelle der Angst und wird deshalb mit dem Stigma der Irrationalität, der Unvernunft versehen und ausgegrenzt9: »die unerfaßte, drohende Natur«; »die rein natürliche Existenz«; Instinkte, Phantasie und theoretische Einbildungskraft; »Promiskuität und Askese, Überfluß und Hunger [...] als Mächte der Auflösung«; das Unverbindbare, der Sprung, die Vielheit, das Inkommensurable, weggeschnitten von »der universalen Vermittlung, dem Beziehen jeglichen Seienden auf jegliches«; »das Unbekannte«, das »in der vorwegnehmenden Identifikation zum Altbekannten gestempelt wird«; »noch die letzte unterbrechende Instanz zwischen individueller Handlung und gesellschaftlicher Norm«, die der Positivismus beseitigt; »der Selbstvergessene des Gedankens wie der der Lust«; die allgemeine »Angst, das Selbst zu verlieren«, die besteht, solange Selbsterhaltung, Identitätsfindung das allein herrschende gesellschaftliche Prinzip sind.10 Allen diesen Ausdrucksformen des bürgerlich Unvernünftigen werden wir als Äußerungen der Unvernunft des Irreseins wiederbegegnen. Jedenfalls markieren sie den Gegenstandsbereich der Psychiatrie, jene als inkommensurable und daher als unvernünftig bezeichneten ›Abfallprodukte‹ und Korrelate des fortschreitenden Aufklärungs-, Rationalisierungs- und Normierungsprozesses. Genau dies kennzeichnet die Dialektik der Psychiatrie. Hat sie das Irrationale der Rationalisierung zuliebe zu verdecken oder es aufzudecken, es einzuordnen oder es aufzuklären? Denn verdankt sie sich selbst auch dem sich totalisierenden Prozeß der Aufklärung sowie dessen Gegenbewegung, der Romantik, so steht sie doch zugleich unter dem unaufhebbaren Anspruch der Aufklärung: »Einlösung der vergangenen Hoffnung«11; Freilegung des Unbekannten selbst, auch gegen die rationale Angst, die dies erzeugt; »die Herrschaft bis ins Denken hinein als unversöhnte Natur zu erkennen« und so die »Verwechslung der Freiheit mit dem Betrieb der Selbsterhaltung« zu lockern12, indem die »Frakturen von Sinn«13 durchgehalten und einbegriffen und nicht als unvernünftig ausgeblendet werden.