Klaus Dörner

Bürger und Irre


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und ihrer Kompetenzen, damit ihrer sozialen Funktion und Verflechtung. Zu berücksichtigen waren die Fortschritte der allgemeinen Medizin und die Reduktion ihres Interesses auf den »organischen Aspekt« (was technische und theoretische Konsequenzen für die Psychiatrie hatte), sowie die Etablierung der bürgerlichen literarischen und politischen Öffentlichkeit, die Entwicklung der ökonomischen Produktivkräfte und Bedürfnisse in der jeweiligen Gesellschaft. Benachbarte Wissenschaften – wie die Psychologie und die Pädagogik – mußten verglichen werden. Die Beziehungen der Psychiatrie zur Philosophie und der Prozeß der Ablösung von ihr waren nachzuzeichnen. Von Bedeutung war auch die National- und Sozialpolitik der Regierungen und Bürokratien, aber auch das Aufkommen sozialer Bewegungen, also die Dialektik von Emanzipation und Integration in der Zeit der entstehenden und sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft (z. B. der Arbeiter, der Juden). Großes Gewicht wurde auf Sammlung, Analyse und – wo möglich – quantifizierende Auswertung von Psychiater-Biographien gelegt, wobei nicht nur »die großen Männer« erfaßt werden sollten; aus Gründen der Quellen-Zugänglichkeit ist das nur für Deutschland gelungen. All dies ist eingebettet in einen internationalen Vergleich, der sich freilich auf die drei für unseren Gegenstand entscheidenden Länder – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – beschränken mußte. Dementsprechend ist unsere Darstellung gegliedert. Sie berichtet chronologisch über die Entstehung der Psychiatrie in den drei Gesellschaften in der genannten Reihenfolge. Daß die deutsche Psychiatrie zuletzt entstand, legt es nahe, sie auch unter dem Aspekt der »verspäteten Nation«39 zu bedenken.

      Die Entstehung der Psychiatrie als moderner Wissenschaft ist auf dem Hintergrund einer Bewegung zu sehen, die im Laufe des 17. Jahrhunderts die soziale Landschaft Europas grundlegend veränderte. Der Aufstieg des Zeitalters der Vernunft, des Merkantilismus und des aufgeklärten Absolutismus vollzog sich in eins mit einer neuen rigorosen Raumordnung, die alle Formen der Unvernunft, die im Mittelalter zu der einen, göttlichen, in der Renaissance zur sich säkularisierenden Welt gehört hatten, demarkierte und jenseits der zivilen Verkehrs-, Sitten- und Arbeitswelt, kurz: der Vernunftwelt, hinter Schloß und Riegel verschwinden ließ. Bettler und Vagabunden, Besitz-, Arbeits- und Berufslose, Verbrecher, politisch Auffällige und Häretiker, Dirnen, Wüstlinge, mit Lustseuchen Behaftete und Alkoholiker, Verrückte, Idioten und Sonderlinge, aber auch mißliebige Ehefrauen, entjungferte Töchter und ihr Vermögen verschwendende Söhne wurden auf diese Weise »unschädlich« und gleichsam unsichtbar gemacht. Europa überzog sich erstmals mit einem System von so etwas wie Konzentrationslagern für Menschen, die als unvernünftig galten.

      1657 begann das riesige, aus mehreren älteren Institutionen zu diesem Zweck zusammengesetzte Hôpital général in Paris mit dieser Konzentrationstätigkeit. Als erste französische Stadt errichtete Lyon 1612 ein solches Haus. Ein Edikt von 1676 schrieb für jede Stadt die Errichtung eines Hôpital général vor; bis zur Revolution hatten 32 Provinzstädte dem entsprochen. In Deutschland begann die Errichtung von Zucht-, Korrektions- oder Arbeitshäusern 1620 in Hamburg. Allgemein wurde diese Bewegung aber erst nach dem Dreißigjährigen Krieg: 1656 (Brieg und Osnabrück), 1667 (Basel) und 1668 (Breslau); auch hier setzte sie sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts kontinuierlich fort.