und ihrer Kompetenzen, damit ihrer sozialen Funktion und Verflechtung. Zu berücksichtigen waren die Fortschritte der allgemeinen Medizin und die Reduktion ihres Interesses auf den »organischen Aspekt« (was technische und theoretische Konsequenzen für die Psychiatrie hatte), sowie die Etablierung der bürgerlichen literarischen und politischen Öffentlichkeit, die Entwicklung der ökonomischen Produktivkräfte und Bedürfnisse in der jeweiligen Gesellschaft. Benachbarte Wissenschaften – wie die Psychologie und die Pädagogik – mußten verglichen werden. Die Beziehungen der Psychiatrie zur Philosophie und der Prozeß der Ablösung von ihr waren nachzuzeichnen. Von Bedeutung war auch die National- und Sozialpolitik der Regierungen und Bürokratien, aber auch das Aufkommen sozialer Bewegungen, also die Dialektik von Emanzipation und Integration in der Zeit der entstehenden und sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft (z. B. der Arbeiter, der Juden). Großes Gewicht wurde auf Sammlung, Analyse und – wo möglich – quantifizierende Auswertung von Psychiater-Biographien gelegt, wobei nicht nur »die großen Männer« erfaßt werden sollten; aus Gründen der Quellen-Zugänglichkeit ist das nur für Deutschland gelungen. All dies ist eingebettet in einen internationalen Vergleich, der sich freilich auf die drei für unseren Gegenstand entscheidenden Länder – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – beschränken mußte. Dementsprechend ist unsere Darstellung gegliedert. Sie berichtet chronologisch über die Entstehung der Psychiatrie in den drei Gesellschaften in der genannten Reihenfolge. Daß die deutsche Psychiatrie zuletzt entstand, legt es nahe, sie auch unter dem Aspekt der »verspäteten Nation«39 zu bedenken.
Die mehrfach einschränkenden Bemerkungen sollen davor bewahren, unsere Studie mit einer Psychiatriegeschichte schlechthin zu verwechseln. Doch dürfte es von einem über die Psychiatrie hinausweisenden allgemeinen Interesse sein, daß hier zum Zeitpunkt der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft über das Verhältnis der Bürger zur sowohl individuellen als auch gesellschaftlich inneren und äußeren Unvernunft berichtet wird, dargestellt am Verhältnis der bürgerlichen Psychiater zu den armen Irren und unter Berücksichtigung der vielfältigen Ambivalenzen zwischen Identifizierung und Distanzierung, zwischen Emanzipation und Integration. Der Wandel der Formen und Methoden der sozialen Kontrolle ist dabei ebenso zu prüfen wie der Anspruch der Aufklärung, ohne den bis heute keine Institution, kein Gesetz, keine Theorie und keine verändernde Praxis zustande kommen. Wer sie allesamt als ideologisch entlarvt und verwirft – so Foucault40 –, propagiert ein Zeitalter der Nach-Aufklärung, bleibt jedoch gerade durch diese abstrakte Negation auf die Aufklärung bezogen und auf eine bloß reaktive Position der Gegenaufklärung beschränkt.
4. Historisches Vorfeld: die Ausgrenzung der Unvernunft
Die Entstehung der Psychiatrie als moderner Wissenschaft ist auf dem Hintergrund einer Bewegung zu sehen, die im Laufe des 17. Jahrhunderts die soziale Landschaft Europas grundlegend veränderte. Der Aufstieg des Zeitalters der Vernunft, des Merkantilismus und des aufgeklärten Absolutismus vollzog sich in eins mit einer neuen rigorosen Raumordnung, die alle Formen der Unvernunft, die im Mittelalter zu der einen, göttlichen, in der Renaissance zur sich säkularisierenden Welt gehört hatten, demarkierte und jenseits der zivilen Verkehrs-, Sitten- und Arbeitswelt, kurz: der Vernunftwelt, hinter Schloß und Riegel verschwinden ließ. Bettler und Vagabunden, Besitz-, Arbeits- und Berufslose, Verbrecher, politisch Auffällige und Häretiker, Dirnen, Wüstlinge, mit Lustseuchen Behaftete und Alkoholiker, Verrückte, Idioten und Sonderlinge, aber auch mißliebige Ehefrauen, entjungferte Töchter und ihr Vermögen verschwendende Söhne wurden auf diese Weise »unschädlich« und gleichsam unsichtbar gemacht. Europa überzog sich erstmals mit einem System von so etwas wie Konzentrationslagern für Menschen, die als unvernünftig galten.
1657 begann das riesige, aus mehreren älteren Institutionen zu diesem Zweck zusammengesetzte Hôpital général in Paris mit dieser Konzentrationstätigkeit. Als erste französische Stadt errichtete Lyon 1612 ein solches Haus. Ein Edikt von 1676 schrieb für jede Stadt die Errichtung eines Hôpital général vor; bis zur Revolution hatten 32 Provinzstädte dem entsprochen. In Deutschland begann die Errichtung von Zucht-, Korrektions- oder Arbeitshäusern 1620 in Hamburg. Allgemein wurde diese Bewegung aber erst nach dem Dreißigjährigen Krieg: 1656 (Brieg und Osnabrück), 1667 (Basel) und 1668 (Breslau); auch hier setzte sie sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts kontinuierlich fort.
Dieselbe Entwicklung setzt in England früher ein und zeigt schon hier auch abweichende Züge. Vorschriften zur Errichtung von »houses of correction« werden schon 1575 erlassen. Aber trotz Strafandrohung, Ermunterung von Privatunternehmern und obwohl schon damals die Politik der »enclosures« bestand, wodurch die Großgrundbesitzer den Ackerbau rationalisierten und der Strom der »befreiten« und besitzlosen Kleinbauern in die Städte einsetzte41, kam dieses Modell nie zu allgemeiner Verbreitung. Schottland widersetzte sich fast ganz; im übrigen erfolgte eher eine Verschmelzung mit den bestehenden Gefängnissen. Größeren Erfolg hatte die Etablierung von »workhouses«, wovon zwischen 1697 (Bristol) und dem Ende des 18. Jahrhunderts 126 entstanden, vornehmlich in Regionen der beginnenden Industrialisierung.
Fragt man nach den Motiven dieser gesamteuropäischen Bewegung, muß man sich zunächst vergegenwärtigen, daß das Heer der arbeitsfähigen Nicht-Arbeitenden und Armen in den Städten 10–20 Prozent, in geistlichen Residenzen und zur Zeit von Wirtschaftskrisen 30 Prozent und mehr der Bevölkerung betrug. Dieser zuvor »normale« Umstand mußte allen Autoritäten als Provokation und Gefahr gerade in dem Maße erscheinen, in dem sie Vernunft zur Herrschaft über Natur und Unvernunft zu bringen suchten: dem Absolutismus im Verlangen nach bürgerlicher Ordnung; dem Kapitalismus im Prinzip regelmäßiger, kalkulierbarer Arbeit; den Wissenschaften im Streben nach systematischer Naturbeherrschung; den Kirchen namentlich im Puritanismus; endlich den Familienvätern, indem sie Vernunftherrschaft als Sensibilität für honnêteté und gegen Familienschande zu übersetzen lernten. Man kann diese Epoche der administrativen Ausgrenzung der Unvernunft (1650–1800) umschreiben als diejenige, in der die Kirche die Formen der Unvernunft, namentlich Arme und Irre, nicht mehr, die bürgerlich-kapitalistische Wirtschaftsgesellschaft sie noch nicht umgreifen konnte. Zugleich schuf diese Epoche die Voraussetzung für die spätere sozio-ökonomische Ordnung: sie stand im Dienst der Erziehung zu einer Haltung, für die Arbeit zur moralischen Pflicht, später zur gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit wird. Die Korrektions-, Zucht- und Arbeitshäuser waren als elastisches Instrument konzipiert: »cheap manpower in the periods of full employment and high salaries; and in periods of unemployment, reabsorption of the idle and social protection against agitation and uprisings.«42 Wichtiger als die im 18. Jahrhundert ohnehin fraglich werdende Produktionsleistung dieser Einrichtungen ist ihre sozialpädagogische Funktion für die bürgerliche Gesellschaft: sie machen dem Bürger negativ den Raum sinnfällig, in dem er sich ohne Skandal und damit »frei« bewegen kann, sie weisen ihm den Weg der Verinnerlichung einer Haltung, die ihn zum selbsttätig moralischen und arbeitenden Bürger macht. In dem Maße, wie er sich diese zu eigen macht, verlieren jene Einrichtungen ihre Funktion und werden in der Tat ab- bzw. umgebaut werden.
Zu den Ausgeschlossenen gehören die Irren.43 Im Durchschnitt dürften sie 10 Prozent der Belegschaft der Anstalten ausgemacht haben, bei großen lokalen Differenzen, zumal es weitgehend der Willkür überlassen blieb, ob ein Müßiggänger und Auffälliger als Irrer und Narr oder mit einem anderen Etikett klassifiziert wurde. Zugleich bildeten sich besondere Formen heraus, unter denen die Unvernunft der Irren auf die gesellschaftliche Vernunft bezogen blieb. Im Gegensatz zur Masse der Ausgeschlossenen, die nicht selbst, sondern nur im Medium der imponierenden Anstaltsmauern den Bürgern sichtbar waren, erhielten die Irren eine Sonderstellung – und zwar gerade ihre gemeingefährlichste Spezies, nämlich die Tobenden, Rasenden und Bedrohlichen (d. h. die Manien). Diese wurden im buchstäblichen Sinne als »Monstren« in Käfigen gegen Entgelt dem bürgerlichen Publikum vorgeführt, das nirgends