Zwang im Hintergrund. Eine Fülle zeitgenössischer Berichte und Reiseführer zeigt, wie die Irrendemonstrationen in Paris und London ebenso wie in verschiedenen deutschen Städten mit den Vorführungen wilder Tiere um die Gunst dieses Publikums konkurrierten. Diese Spektakel hatten mehr gemeinsam als die Gitterstäbe der Menagerien und die Geschicklichkeit der ihre Opfer reizenden Wärter. Was hier veranstaltet wurde, war die wilde und unbezähmbare Natur, das »Tierische«, die absolute und zerstörende Freiheit, die soziale Gefahr, die hinter den von der Vernunft gesetzten Gittern um so dramatischer in Szene gesetzt werden konnte, als durch eben denselben Akt dem Publikum die Vernunft als Notwendigkeit der Herrschaft über die Natur, als Beschränkung der Freiheit und als Sicherung der staatlichen Ordnung vor Augen geführt wurde. War der Wahnsinn in früheren Zeiten ein Zeichen des Sündenfalls, verwies er – in der Beziehung auf Heilige und Dämonen – auf ein christliches Jenseits, so zeugte er jetzt von einem politischen Jenseits, vom chaotischen Naturzustand der Welt und des Menschen, von der brüchigen Basis seiner Leidenschaften, d. h. von dem Zustand, den Hobbes (1642) wahrnahm und aus dem er keinen Ausweg sah als die Unterwerfung der Menschen unter ein Staatswesen, unter ihre zweite, die soziale Natur: »Nur im staatlichen Leben gibt es einen allgemeinen Maßstab für Tugenden und Laster; und eben darum kann dieser nicht anders sein als die Gesetze eines jeden Staates; selbst die natürlichen Gesetze werden, wenn die Verfassung festgesetzt ist, ein Teil der Staatsgesetze.«44
Das Arrangement, das die Irren als wilde und gefährliche Tiere präsentierte45, war ein Appell an das Publikum, den moralischen Maßstab des absoluten Staates sich als eigene Vernunft zu eigen zu machen. Daß der absoluten tierischen Freiheit der Irren nur mit absolutem Zwang zu begegnen war, daß sie als Objekte eines erziehend-dressierenden Vorgehens galten, das ihr Irren mit vernünftiger Wahrheit, ihre Gewaltsamkeit mit physischer Strafe zu brechen hatte, und daß ihre soziale Gefährlichkeit in realer Ohnmacht vorgeführt wurde, gab den Zielen und den Sanktionen dieses moralisch-politischen Aufrufs exemplarischen und anschaulichen Nachdruck. Die Entstehung der Psychiatrie als Institution und Wissenschaft hängt ab von der spezifischen Umwandlung der die Unvernunft lediglich ausgrenzenden Institutionen des aufgeklärten Absolutismus. Um die gesellschaftlichen Bedingungen, die Richtung und die Auswirkungen dieser Umwandlung geht es im folgenden.
Anmerkungen
1 Spehlmann, Freuds neurologische Schriften.
2 Habermas, Logik der Sozialwissenschaften, bes. S. 185 ff.
3 Dörner, »Nationalsozialismus und Lebensvernichtung« sowie Der Krieg gegen die psychisch Kranken.
4 Dörner, Hochschulpsychiatrie.
5 Hollingshead and Redlich, Social Class and Mental Illness.
6 Reimann, Die Mental Health Bewegung, bes. S. 93–99.
7 Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 10.
8 A. a. O., S. 15 f.
9 A. a. O., S. 44 f.
10 A. a. O., Zitat-Zusammenstellung aus den Seiten 17–49.
11 A. a. O., S. 9.
12 A. a. O., S. 55.
13 Habermas, Theorie und Praxis, S. 229.
14 Lieber, Philosophie, Soziologie und Gesellschaft, S. 3 f.
15 G. Zeller, »Von der Heilanstalt...«
16 »Ich halte es für eine ungeheuere Gefahr im deutschen Denken, und diese Gefahr ist nur die Kehrseite einer der größten Tugenden dieses Denkens, daß es aus einer interpretativen Neigung heraus das allein Erklärbare auch interpretieren möchte, [...] es möchte [...] auch all das, was mit dem Schema des ›Machens‹, des ›Mechanismus‹ allein angemessen erfaßt werden kann, ›vertiefen‹ und zu einem Problem der Interpretation machen. [...] Diese methodologische Unstimmigkeit, daß man deutet, wo man erklären müßte, ist ja nur ein auf der methodologischen Ebene sich wiederholender Ausdruck einer unpolitischen Seelenhaltung, die als solche im Leben selbst schon oft beobachtet wurde.« (Mannheim, Wissenssoziologie, S. 61).
17 Leibbrand/Wettley, Der Wahnsinn, S. 4.
18 Vgl. hierzu fast alle Beiträge in: Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte.
19 »Offenbar ist es der Sinn der von mir gegebenen Nachweise, daß die wirkungsgeschichtliche Bestimmtheit auch noch das moderne, historische und wissenschaftliche Bewußtsein beherrscht, [...] daß unser im Ganzen unsrer Geschicke gewirktes Sein sein Wissen von sich wesensmäßig überragt.« (Gadamer, Wahrheit und Methode, S. XX). Dagegen Habermas (Logik der Sozialwissenschaften, S. 175): »Jedoch bleibt das Substantielle des geschichtlich Vorgegebenen davon, daß es in die Reflexion aufgenommen wird, nicht unberührt. [...] Autorität und Erkenntnis konvergieren nicht, [...] Reflexion arbeitet sich an der Faktizität der überlieferten Normen nicht spurlos ab.«
20 Lenk, Ideologie, »Problemgeschichtliche Einleitung«, S. 13–57.
21 Plessner, »Abwandlungen des Ideologiegedankens«, in: Lenk, a. a. O., S. 218–235.
22 Wolff, Einleitung zu: Mannheim, Wissenssoziologie, S. 11–65.
23 Lieber, S. 1–105.
24 Hofmann, Gesellschaftslehre als Ordnungsmacht.
25 Habermas, S. 149–192. Ein Zeichen für die Entfremdung der Psychiatrie von ihrer Geschichte, für ihr unhistorisches Bewußtsein mag es sein, daß zunehmend historische Arbeiten nicht etwa in der psychiatrischen Fachpresse erscheinen, sondern in kostspielig ausgestatteten Serien der pharmazeutischen Konzerne, von deren Vertretern den Psychiatern als wissenschaftlich unverbindlicher, aber werbewirksamer »kultureller Überbau« überreicht.