Madeleine Puljic

Unter den Narben (Darwin's Failure 2)


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genug. »Ruhe!«, brüllte er so laut, dass es von der niedrigen Decke hallte. Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. »Es bleibt alles wie gehabt. Die Tore der Gebetsstätten bleiben geöffnet, und meine Brüder und ich haben immer ein offenes Ohr für eure Sorgen. Und solange wir Spenden erhalten, werden wir sie weitergeben. Nach demselben Prinzip wie bisher: Wer Hilfe benötigt, wird sie empfangen. Doch wer mit den Reinen paktiert und Leben nimmt, benötigt keine Hilfe von uns.«

      Zustimmendes Gemurmel war die Folge. Er würde die Puristen aushungern. Dieses Pack, das keine Scheu kannte, sich an den Spenden der Arbeiter zu bereichern, während sie mordend und plündernd durch die Straßen zogen und auch noch diejenigen attackierten, denen sie das wenige Brot vom Teller stahlen.

      »Also bleibt ruhig«, schloss er seine Beschwichtigung. »Und haltet euch von den Aufständen fern, dann wird euch nichts geschehen.«

      Einige verzogen die Gesichter. Vor den Gefahren ihres Alltags konnte sie diese Vorsicht nicht schützen. Der mussten sie sich selbst stellen. Helbar wusste nur zu gut, dass die Bedingungen in den Fabriken schlimmer waren denn je, aber diese Sorge konnte er ihnen nicht abnehmen.

      »Ich weiß.« Er hob die Hände. »Es gibt keine Sicherheit, solange diese Parasiten unter uns weilen.«

      Die Unruhe kehrte zurück, und er atmete hörbar durch, als würden ihm die folgenden Worte widerstreben. Als hätte er sie nicht schon tausendfach in seinen Gedanken geformt. Doch diesmal sprach er sie aus.

      »Ich kann euch nicht dazu raten, Gewalt zu verüben. Aber ich betone auf das Äußerste, dass euch niemand dafür verurteilen kann, wenn ihr euch zur Wehr setzt, um euch und die Euren zu schützen.«

      Sie sahen ihn schockiert an. Zu lange hatte er die Maske der Freundlichkeit und des Verständnisses getragen. Es wurde Zeit, dass er ein Zeichen setzte. Zeit, dass jemand die Wahrheit aussprach.

      »Elend hat es in Noryak immer gegeben, das wisst ihr ebenso gut wie ich«, fuhr er fort. »Eskaliert ist es erst, seit die Puristen ihr Unwesen trieben.«

      Die Ersten nickten zaghaft.

      »Nicht die Oberschicht ist das Problem«, erklärte Helbar, bebend vor gerechtem Zorn. »Wir hier unten sind es gewohnt, unsere Dinge selbst zu regeln. Auf einander zu achten. Doch die Puristen wenden sich gegen uns. Sie stehlen das Wenige, das wir besitzen, zerstören das, was uns am Leben erhält!«

      »Unmenschen«, zischte jemand, laut in der betretenen Stille des Gebetshauses.

      Diesmal begrüßte Helbar den Einwurf. Er nickte bekräftigend. »So ist es! Sie sind Verräter am eigenen Volk!«

      Sie auszuhungern war nicht genug. Wenn sie dem Spuk ein Ende machen wollten, mussten sie die Reinen auslöschen, sie an die Exekutive ausliefern und …

      Ein lautes Knacken ließ ihn aufblicken. Das breite Eingangstor glitt langsam auf, und Helbar runzelte die Stirn. Er legte Wert auf Pünktlichkeit, Unterbrechungen konnte er nicht leiden.

      Doch es war kein Nachzügler, der sich durch das Tor schob, sondern ein schmutziger Halbwüchsiger in blauer Adeptenrobe. Sein Gesicht war verquollen, als hätte er mehrere Schläge einstecken müssen, Ruß schwärzte seine blasse Haut. Er blinzelte geblendet in das unstete Licht der Neonröhren.

      Mittlerweile hatten sich alle Gläubigen umgewandt, um zu sehen, wer da Helbars wütende Rede unterbrochen hatte. Als der Junge die geballte Aufmerksamkeit der Anwesenden bemerkte, zögerte er. Dann jedoch fiel sein Blick auf den Priester an der Kanzel, und er drückte das Tor endgültig auf.

      Helbar erstarrte. Hinter dem Jungen tauchten weitere Adepten auf, alt genug, um kurz vor ihrer Priesterweihe zu stehen. Sie hielten die jüngeren Novizen an der Hand, die Kleinsten trugen sie auf den Armen. Fast dreißig Kinder drängten in den Gebetsraum, viele davon trugen improvisierte Verbände um Arme oder Beine. Sie alle waren verschmutzt und ausgemergelt, ihre Gesichter gezeichnet von Ruß und Blut. Ihre Roben waren zerschlissen und voller Brandflecken.

      Hilflos und verloren sahen sie aus. Der lebende Beweis, dass Helbar nicht besser war als die Puristen, die den Anschlag verübt hatten, der ihnen das Zuhause genommen hatte. Ebenso wie seine Anhänger hatte Helbar nur die politische Bedeutung gesehen, die der Fall des Klosters zur Folge hatte. Aber er hätte es besser wissen müssen.

      All die Kinder, die über die Jahre ins Kloster gebracht worden waren. Verwaist, zurückgelassen und vergessen … Er hatte keinen Gedanken daran verloren, was mit ihnen geschehen war. Das Kloster hatte weit mehr Jungen als diesen ängstlichen Haufen beherbergt, und er hatte keine Sekunde darauf verschwendet, sich um sie zu sorgen. Wo war der Rest der Adepten?

      Ungesehen hinter seinem Rednerpult ballte Helbar eine Hand zur Faust.

      Sie hatten ihre Schüler im Stich gelassen, er und die anderen Priester. Als sie mit dem Kloster gebrochen hatten, hatten sie gewusst, welche Zustände im Kloster geherrscht hatten. Doch sie hatten nur ihren eigenen Vorteil gesehen, ihren Stolz. Sie hatten die Kinder Lorios Wahnsinn überlassen, sie einem Mann ausgeliefert, der vor blanker Gewalt ebenso wenig zurückschreckte wie vor heimtückischem Mord.

      Nun standen sie da, ihre hageren Gestalten ebenso anklagend wie der abgestumpfte Ausdruck in ihren Gesichtern. Und alles, woran Helbar denken konnte, war, wie er sie schnellstmöglich wieder loswurde.

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