an seiner Seite. Sein Begleiter spannte die Muskeln an, bereit, dem Priester eine Lektion zu erteilen. Haron hielt ihn zurück.
Der Abt verzog die schmalen Lippen zu einem abfälligen Grinsen. »Du bist hier in meinem Haus, vergiss das nicht. Diesmal bist du derjenige, der etwas von mir will, nicht umgekehrt.« Er zuckte mit den Schultern. »Dein Ressourcenmangel geht mich nichts an. Ich habe euch bezahlt. Euer Plan ging nach hinten los. Sei ein Mann und akzeptiere das.«
Schneller, als einer der beiden anderen reagieren konnte, hatte Haron den Widerling am Kragen gepackt und zog ihn über die Tischplatte heran. Der Gestank des Priesters biss ihm in die Nase, doch Haron war Schlimmeres gewohnt.
»Was weiß ein Wurm wie du schon davon, zu seinen Fehlern zu stehen?«, zischte er. »Du wolltest groß hinaus, hast dafür sogar deinen eigenen Mentor ermordet. Und jetzt zerfällt dein kleines, idiotisches Imperium unter deinen Händen.« Er stutzte, als ihm die Parallele zu seinem eigenen Aufstieg bewusst wurde. Aber er hatte sich rechtzeitig wieder unter Kontrolle, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. »Der Krieg fordert von uns allen Opfer«, fuhr er fort. »Wir kämpfen wenigstens für unser Recht. Du dagegen hast dich aus reinem Egoismus zerstört.« Er stieß den stinkenden Mann von sich. »Leb mit deiner Schande.«
Lorio stolperte rückwärts. Er tastete nach seinem Hals. »Raus hier«, keuchte er.
Haron erkannte, dass weitere Worte sinnlos waren. Aus dem Kloster war nichts herauszupressen. Er kannte den Ausdruck in den Augen des Abtes gut genug, um zu wissen, was da unter seinem Wahnsinn lauerte: Hunger.
»Lass uns gehen«, sagte er, an seinen Begleiter gewandt. »Hier gibt es nichts für uns.«
»Du willst ihn mit seinen Beleidigungen davonkommen lassen?«, brummte Hemmon. Zum Glück erst, als sie auf den Gang hinausgetreten waren. Der Mann wusste, wann er den Mund zu halten hatte.
»Was gewinne ich, wenn ich dich den Burschen verprügeln lasse?«, entgegnete Haron. »Man kann nichts aus jemandem herauspressen, wenn nichts vorhanden ist.«
Er wollte sich dem Ausgang zuwenden, aber etwas hielt ihn zurück. Jetzt, da sie Lorios Büro hinter sich gelassen hatten, war das Wimmern des Kindes wieder zu hören, lauter als zuvor. Harons Eingeweide krampften sich zusammen. Er folgte dem Laut, von einem inneren Drang erfüllt, das Unglück mit eigenen Augen zu sehen. Er musste nicht lange suchen.
Es war leerer Raum, der wohl einmal für den Unterricht benutzt worden war. Die Staubschicht auf den Tischen verriet jedoch, dass er schon seit geraumer Zeit nicht mehr benutzt wurde.
Haron ging in die Knie. Unter dem hintersten Tisch fand er den Jungen. Sieben, vielleicht acht Jahre alt, abgemagert fast bis auf die Knochen, die Hände auf den aufgeblähten Bauch gepresst. Lorio hatte die Wahrheit gesagt. Er besaß keine Mittel mehr, nicht einmal für seine eigenen Schützlinge, falls er sie denn je als solche gesehen hatte.
Der Novize hob den Kopf, sah Haron aus viel zu großen, wässrigen Augen an.
Haron stieß den Atem aus, den er angehalten hatte, ohne es zu merken. Er kannte das Kind nicht. Natürlich nicht. Erst da wurde ihm bewusst, was er gleichermaßen gehofft und befürchtet hatte: Für einen Augenblick war er überzeugt gewesen, er würde denselben Jungen vor sich finden, den er seinerzeit aus dem N4-Center gestohlen hatte. Für Xenos. Für das Kloster. Ein perfektes Kind, um den Gläubigen die Illusion zu geben, sie könnten ebenso makellos wie die Oberschicht sein. Eines von vielen, wie er wusste. Aber das Einzige, das er selbst entwendet hatte.
Haron löste die Hand, die sich bei diesen Gedanken zur Faust geballt hatte, und streckte sie dem Novizen entgegen. »Komm mit, wenn du möchtest.« Ein Maul mehr, das er stopfen musste. Was machte das noch für einen Unterschied? Viel konnte der Kleine ja wohl nicht brauchen.
Der Junge zögerte, musterte erst ihn, dann Hemmon mit furchtsamem Blick. Doch schließlich siegte der Hunger. Der Hunger siegte immer. Er ergriff Harons Hand und ließ sich von ihm auf die dürren Beine ziehen.
Hemmon sagte nichts. Als der Junge stolperte, hob er ihn auf die breiten Schultern. Zu dritt machten sie sich auf den langen Weg zurück.
Die Nacht fiel herein, als sie noch Stunden von der Unterstadt entfernt waren, färbte den Himmel vom ewigen Grau des Smogs zu undurchdringlichem Schwarz. Haron wartete darauf, die Feuer der Aufstände auflodern zu sehen, doch die Nacht blieb dunkel. Zwar bewegten sie sich immer noch durch die kleinen, uneinsehbaren Nebenstraßen, um nicht aufgehalten zu werden – dass aber nichts zu hören, nichts zu sehen war, erschien ihm seltsam. Hatten seine Leute aufgegeben? Sahen sie keinen Grund zu kämpfen, wenn er sie nicht dazu antrieb?
Erst als ihr Weg sie wieder in die Nähe einer Hauptstraße führte und sie einen Blick auf die riesigen Monitore an den Häuserfronten der Oberschicht werfen konnten, erkannte er seinen Irrtum.
Es hatte sehr wohl einen Anschlag gegeben. Doch nicht auf die Läden der Optimierten, keines der vereinbarten Ziele für Plündereien. Nichts, um den Hunger zu stillen oder den Krieg voranzutreiben. Diesmal war es nicht die Suche nach Lebensmitteln und Waffen gewesen, die das Ziel ausgewählt hatte, sondern blinde Rache.
Haron biss die Zähne zusammen. Das Kloster brannte, und er wusste nur zu gut, wer dafür verantwortlich war.
3. Kapitel
Ramin
Wütend stürmte der ehemalige Priester durch die Gänge des Regierungssitzes. Er stieß jeden beiseite, der nicht schnell genug den Weg freiräumte. Verständnisloses Gemurmel folgte ihm, doch davon ließ er sich nicht bremsen. Er eilte weiter, erreichte die weniger frequentierten Bereiche und schlüpfte unbemerkt in die unscheinbare Nische an der Seite. Nervös sah sich er um, während der Scanner seinen Chip erfasste.
Es dauerte schier endlose Sekunden, dann endlich glitt die hintere Wandverkleidung beiseite. Ramin atmete auf und schlüpfte in den schmalen Gang, der ihn direkt in die privaten Räumlichkeiten des Präsidenten führen würde. Kam es ihm nur so vor, oder dauerte die Autorisierung tatsächlich jedes Mal länger?
Er schob den Gedanken beiseite. Darüber konnte er sich ein anderes Mal Gedanken machen, im Augenblick gab es dringlichere Dinge zu besprechen. Solange die Sicherheitskontrolle ihn einließ, war er noch nicht aufgeflogen. Und selbst wenn jemand einen Verdacht schöpfte, hier drinnen konnte ihn niemand aufspüren – kaum jemand außer ihm kannte diesen Zugang. Nur er und natürlich der Präsident selbst benutzten die geheimen Wege hinter den offiziellen Bereichen.
Also hetzte er weiter, rannte durch den verwinkelten Gang, bis er Sepions Büro erreichte. Verschwitzt und außer Atem trat er durch die geheime Tür, und der entrüstete Blick des Präsidenten machte ihm einmal mehr klar, wie rasch es mit seinen Privilegien vorbei sein konnte.
Eine Augenbraue des Regierenden wanderte pikiert nach oben. »Ja?«
»Es gab einen neuen Anschlag«, keuchte Ramin.
Er fühlte einen dicken Schweißtropfen, der ihm feucht und unappetitlich über die Wange lief. Sepion verzog angewidert den Mund. Schlagartig wurde Ramin bewusst, zu welchem Fehler ihn seine Aufgebrachtheit verleitet hatte: Kein Klon würde sich derart körperlich verausgaben, ein Regierungsmitglied erst recht nicht! Sich so abzuhetzen war ein undenkbares Verhalten für jemanden aus der Oberschicht. Er hätte anrufen sollen, eine sichere Verbindung beauftragen und … Zu spät. In seiner Aufregung war er in seine alten, verräterischen Gewohnheitsmuster zurückgefallen.
Der Präsident wandte sich jedoch bloß desinteressiert ab. »Ich weiß.«
»Du weißt es bereits?«, wiederholte Ramin fassungslos. Er räusperte sich verhalten, um diesen Fehler zu überspielen, straffte die Schultern und strich seine Kleidung glatt. Betont neutral fuhr er fort: »Gibt es schon eine Anweisung, wie wir darauf reagieren werden?«
»Nein.« Sepion betätigte den Sensor, der seinen Kleiderschrank aktivierte, und musterte die Hemden in der ersten Reihe. »Was interessiert es mich, ob diese Verrückten nun auch die Unterschicht angreifen?«, fragte er, während er ein cremefarbenes Stück mit dezenten Golddrucken auswählte. »Wenigstens eine Nacht, in der nicht weiteres Geld in Flammen aufgeht.«