oben glänzten. Wie immer bei diesem Anblick befiel ihn ein leichter Schwindel. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Hastig tastete er hinter sich, suchte Halt an der Wand des Fahrstuhls. Der Himmel. Die Unendlichkeit. Die Freiheit. Dinge, an die er sich noch immer nicht gewöhnt hatte und an die er sich wohl auch niemals gewöhnen würde. Selbst dem Großteil der Oberschicht war diese Erfahrung verwehrt. Seit dem Fall des N4-Centers war der Regierungssitz das einzige Gebäude, das aus der Smogschicht herausragte, kaum jemand hatte Zutritt zu diesem Dach.
Und ausgerechnet Ramin, der aus der Gosse kam und selbst aus dem Kloster verstoßen worden war, gehörte zu den wenigen Auserwählten, die diese wundersamen Sterne sehen durften. Gerade er, der so viele Jahre lang den Glauben gelehrt hatte, hätte wohl argwöhnen müssen, dass Gott ihn zu einem höheren Zweck an diese Position gebracht hatte – wie ein Werkzeug, das bereitgelegt wurde und auf seinen Einsatz wartete. Aber für Ramin zählte nur die größte Wahrheit des Glaubens: Gott scherte sich einen Dreck um seine Schöpfung. Er hatte sie längst aufgegeben und wartete bloß noch darauf, dass sie sich selbst zerstörte.
Und wie es aussah, war die Menschheit auf dem besten Weg dorthin.
Ramin trat auf die Umrandung des Daches zu. Ohne den Smog hätte man von hier aus die verfluchte Stadt überblicken können. Jedenfalls einen Teil davon. Sie erstreckte sich weiter, als man selbst von hier oben sehen konnte. Und dahinter ... Ödnis. Vergiftetes Land, das Noryaks Müll schlucken musste. Und die Leute wunderten sich, dass sie hungern mussten?
Aufständische niederzuschießen würde diese Probleme nicht lösen. Präsident Sepion und seine Handlanger begriffen nicht, wozu Hunger und Verzweiflung Menschen treiben konnten. Ramin schon. Er hatte es am eigenen Leib erfahren. Er würde diese Gewalt niemals unterschätzen, genauso wenig wie die Macht menschlicher Entschlossenheit.
Nachdenklich legte Ramin die Hände um die Brüstung, fühlte das kalte Metall an seiner Haut. Entschlossenheit …
Er war kein Werkzeug, das platziert worden war. Aber er war hier. Ein Natürlicher, dem die mächtigsten Klone der Stadt ihr Ohr leihen mussten, ob sie wollten oder nicht. Da konnte er ihnen auch die richtigen Dinge einreden.
Gewalt war nicht die einzige Lösung, um einen Krieg zu beenden.
Haron
Der Weg war lang. Und mühsam. Haron hörte das gleichmäßige Schnaufen seines Begleiters hinter sich. Mit der Metro hätten sie die Strecke in einer halben Stunde zurückgelegt, aber Haron machte sich nichts vor: Ihre Verkleidung aus abgelegten Arbeitsoveralls und genug verhüllenden Stoffen, um ihre Narben zu verdecken, mochte einem flüchtigen Blick standhalten. In der Enge der überfüllten Metros hätte man sie jedoch unweigerlich als das erkannt, was sie waren.
Die meisten Passagiere würden auf dem Weg von oder zur Arbeit sein – und damit eindeutig zu jener Fraktion gehören, die nicht gut auf Puristen zu sprechen war. Ein Risiko, das Haron nicht bereit war, einzugehen. Also führte er seinen Begleiter durch die engen, vergessenen Seitengassen der Stadt, zwischen Müll, Schutt und Verfall hindurch, bis die schmucklose Mauer des Klosters vor ihnen aufragte.
»Wir sind da«, sagte er.
Hemmon zog die Augenbrauen zusammen. »Hier willst du Unterstützung finden?«, fragte er.
Haron konnte seine Zweifel nachvollziehen. Das Gebäude war schlicht und nur wenige Stockwerke hoch, ohne technische Spielereien oder aufwendige Sicherheitsvorrichtungen. Abgesehen von seiner schieren Größe gab es nichts, was es von den umliegenden Häusern unterschieden hätte. Außerdem wirkte es heruntergekommen. Seit Harons letztem Besuch war die Fassade mit unflätigen Sprüchen beschmiert worden. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu entfernen. Ein Fenster war notdürftig mit Platten verbarrikadiert, die anderen zum Teil mit Plastikplanen abgedeckt.
»Wir werden sehen.« Es war der einzige Ort, an dem er noch irgendwelche Forderungen stellen konnte. Hier hatte er Verbündete, zumindest im Geiste. Von den Geschäften, die er mit dem Kloster geführt hatte und Xenos vor ihm, wussten die meisten Puristen jedoch nichts. Wenn es nach Haron ging, würde das auch so bleiben.
Er trat an das Eingangstor. Bei seinem ersten Besuch hatte er noch nach einem Sensorfeld Ausschau gehalten oder nach einer mechanischen Klingel, wie sie in den Arbeitervierteln üblich waren. Inzwischen wusste er es besser. Er hieb mit der Faust gegen das Tor.
Niemand reagierte.
»Sieht ziemlich verlassen aus, wenn du mich fragst«, meinte Hemmon.
Haron wollte ihn bereits zurechtweisen, als er etwas hörte. Stimmen, im Inneren des Gebäudes. Er hämmerte erneut an das Tor. Die Stimmen verstummten. Als niemand Anstalten machte, ihnen zu öffnen, verlor Haron die Geduld. Er warf seine Schulter gegen das rostige Metall. Nach kurzem Zögern tat Hemmon es ihm gleich, und gemeinsam drückten sie das massive Tor auf.
Staubige, abgestandene Luft wehte ihnen entgegen. Die Eingangshalle war leer und verwaist, in den Ecken sammelte sich Staub. Beunruhigung machte sich in Haron breit, aber er ließ sich nichts davon anmerken. Mit ausgreifenden Schritten durchquerte er die Halle. Ein leises Huschen war zu hören, das sich rasch entfernte. Also hatte er sich nicht getäuscht: Jemand war hier. Wieso kam dann niemand, um sie zu empfangen?
Er führte Hemmon in den Flur, von dem die Arbeitsräume der Priester abzweigten. Jedenfalls das eine Büro, das er kannte. Auch hier hatte sich einiges verändert. Die Tische, die den Gang säumten, waren leer, einer lag in Trümmern. Der Boden war fleckig, und von den Wänden bröckelte der Putz, als habe jemand zu oft darauf eingeschlagen. Aus einem Zimmer drang die monotone Stimme eines Nachrichtensprechers, untermalt von den Geräuschen der Aufstände. Irgendwo weinte ein Kind.
Haron deutete seinem Begleiter, zurückzubleiben. Was auch immer sie erwartete – er wollte derjenige sein, der die Situation als Erster einschätzte. Hemmons Reaktion traute er noch weniger als seiner eigenen.
Vorsichtig schob er sich an den Raum heran, aus dem die Geräusche drangen, und stieß die Tür auf. Sie glitt widerstandslos nach innen. Ein ununterbrochenes, wütendes Gemurmel wurde hörbar. Haron straffte die Schultern. Hemmon durfte ihn nicht zögern sehen, also trat er in das Halbdunkel des Arbeitszimmers. Es stank nach altem Schweiß, Talg und Urin. Im Flackern des Monitors erkannte er die verlotterte Gestalt, die hinter dem Schreibtisch hockte.
»Lorio«, sagte er.
Der Abt verstummte, nur seine Finger tasteten weiter über die Tischfläche. Sein Kopf ruckte zur Seite, sodass das lange, fettige Haar den Blick auf sein hageres Gesicht freigab. Dem Geruch im Zimmer nach zu urteilen, hatte er sich seit Wochen nicht mehr aus dem Raum bewegt, geschweige denn gewaschen.
»Sie brennen.« Seine Stimme klang heiser. Unbenutzt. Wie auf sein Kommando erschienen Feuerbilder auf dem Bildschirm und warfen ihr orangefarbenes Licht auf den Abt. »Sie werden alle brennen. Die Ungläubigen, die unnatürlichen Bastarde in ihren Türmen.« Er hob den Kopf und sah Haron an. »Deshalb bist du doch hier, nicht wahr?«
»Ich …« Das kalte Funkeln in Lorios Augen ließ Haron stocken. Was war mit dem jungen Mann geschehen? »Ja, das ist unser Plan. Allerdings benötigen wir dafür noch weitere Ressourcen. Mit der Unterstützung des Klosters …«
Lorio kicherte. Dann richtete er sich auf, legte den Kopf in den Nacken und lachte, laut und anhaltend. »Du willst Unterstützung?«, fragte er. »Von mir?«
»Wir hatten eine Vereinbarung«, erinnerte Haron ihn drohend. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Hemmon seinen Tonfall erkannt und sich breitschultrig neben ihn gestellt hatte.
Den schmutzigen Priester schien das allerdings nicht zu beeindrucken. »Ja, die hatten wir. Du treibst mit deinen Aufständen die Menschen in meine Gebetsstätten, und ich helfe dir, die Klone zu stürzen.« Er breitete die Arme aus. »Dank deiner Kriegsspiele verfüge ich aber über keine Gebetsstätten mehr. Sie haben mit mir gebrochen. Ich habe keine Mittel mehr, und für dich schon gar nicht.«
Haron biss die Zähne zusammen und zwang seine Wut nieder. »Wir haben getan, was du wolltest. Dass du deine Priester nicht im Griff hast, ist dein Problem, nicht unseres.«