die andere hin. Atlan hatte viele Weisheiten seines Meisters übernommen, ohne an ihrem Sinn zu zweifeln. Diese zählte nicht dazu. Wenn seine Kindheit im Kloster ihn eines gelehrt hatte, dann, dass Peiniger niemals aufhörten, wenn man sie auch noch in ihrem Tun bestärkte. Sie schlugen nur stärker zu.
»Ihr seid keine Opfer«, wiederholte er deshalb. »Seht euch um.« Er machte eine Geste, mit der er den gesamten Innenraum des Gebetshauses einschloss. »Ihr seid nicht alleine. Ihr müsst nicht alleine leiden.«
Die versammelten Menschen folgten zögernd seinem Appell. Verstohlen sahen sie sich um, begegneten erstmals den Blicken ihrer Sitznachbarn. Abend für Abend fanden sie hier gemeinsam zusammen, lauschten seinen Predigten und waren eine Gemeinschaft. Das änderte jedoch nichts daran, dass außerhalb dieses Gebäudes der Alltag lauerte, und dort draußen galt nach wie vor: Jeder war sich selbst der Nächste. Fremde konnten einen ausnutzen, verraten und hintergehen. Je weniger Leuten man vertraute, desto sicherer war man. So jedenfalls war es früher gewesen. Die Zeiten hatten sich geändert. Konkurrenz um die zu wenigen Arbeitsplätze war nicht länger das, was diesen Leuten Sorge bereiten musste.
»Ihr seid nicht alleine. Ihr seid viele. Wir sind viele. Wir können einander helfen. Wir wollen alle dasselbe: überleben. Wenn ihr Tag für Tag füreinander da seid, so wie ihr es hier seid, dann können sie euch nicht zu Opfern machen. Schützt euch. Unterstützt euch. Habt Vertrauen. Begegnet dem Krieg mit Frieden. Seid das, was Puristen und Klone gleichermaßen vergessen haben: Seid menschlich!«
Betretenes Schweigen breitete sich aus. Sie starrten ihn an, fassungslos. Vielleicht auch enttäuscht. War er zu weit gegangen? Er wollte doch nur helfen!
Der Mann in der zweiten Reihe, dessen Sohn noch keine Woche tot war, erhob sich. Sein Blick war fest auf Atlan gerichtet. Dann drehte er sich um – und streckte dem Mädchen zu seiner Rechten die Hand entgegen. »Vertrauen für Frieden.«
2. Kapitel
Haron
So sehr es Haron auch widerstrebte, er wusste, dass Ariat recht hatte. Er hatte seinen Leuten ein Versprechen gegeben: die Klone zu vernichten und die Reinen aus ihrem Elend zu erlösen. Und nicht nur sie, auch die Arbeiter, die an der Oberfläche zurückgeblieben waren. Menschen sollten nicht länger in Fabriken sterben, das billigste Ersatzteil der Maschinerie.
Nun, zumindest diesen Teil hatte er gehalten. Stattdessen starben sie jetzt auf den Straßen.
Aber doch nur, weil sie sich gegen den Umbruch wehrten, der ihnen helfen sollte! Haron verstand die Angst, die sie dazu bewog. Es änderte nichts. Er brauchte sie. Wenn sich die gesamte Unterschicht erhob, die Türme der Oberschicht erstürmte und dem künstlichen Dasein ein Ende bereitete, gäbe es nichts, was diese verfluchten Klone dagegen unternehmen könnten. Sie waren schwach. Haron wusste, dass er im Recht war. Und dennoch verlor er diesen Krieg, weil es ihm an Ressourcen mangelte.
Er musste handeln. Nicht, um Ariat zu besänftigen – die war im Augenblick seine geringste Sorge, so gerne er auch die sture Aufmüpfigkeit aus ihr herausgeprügelt hätte. Doch in erster Linie musste er an die Menschen denken, die von ihm abhängig waren. Sie würden nicht mehr lange durchhalten. Er musste den Krieg beenden, und zwar bald.
Dazu brauchte er allerdings etwas Großes. Etwas, das den Arbeitern zeigte, dass die Kluft zwischen Ober-und Unterschicht überwunden werden konnte. Dass sie nicht auf die Willkür von Klonen angewiesen waren, sondern ihr Leben selbst bestimmen konnten. Etwas, das die Missgeburten in den Boden stampfte – und bei dem es keine Kollateralschäden unter den Arbeitern geben durfte. Diesmal musste alles nach Plan laufen.
Haron wusste, was er zu tun hatte. Aber dazu benötigte er Hilfe, und es gab nur einen Ort, wo er sie finden konnte.
Er zog die verbeulte, rostige Kiste unter dem Brettergestell hervor, die ihm als Bett diente. Es war lange her, dass er sie zuletzt benötigt hatte, doch der Deckel ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen. Haron entfaltete den Kapuzenmantel aus grobem, grauem Stoff und seufzte. Er hatte sich nicht mehr verhüllt, seit er die Puristen zum offenen Widerstand aufgerufen hatte, stolz trug er seine Narben zur Schau.
Heute jedoch brauchte er Anonymität.
Kurzentschlossen klemmte er sich das Bündel unter den Armstumpf und schob mit der Rechten den Vorhang seiner Wohnnische auf. Er hielt sich an die weniger belebten Gänge des Tunnellabyrinths. Doch mit all den Neuankömmlingen war ungenutzte Fläche hier unten mittlerweile Mangelware, und als Anführer der Reinen lag sein Wohnbereich im Zentrum. Es dauerte nicht lange, bis ihm neugierige Blicke folgten. Haron ignorierte sie. Er war niemandem Rechenschaft schuldig, seine Pläne gingen vorerst nur ihn etwas an.
Er zwängte sich durch die Menschenmenge, die sich zu jeder Tageszeit in der Haupthalle einfand und jeden freien Platz einnahm. Überall standen und saßen hagere Gestalten, die aus schmutzigen Schalen Portionen aßen, von denen Haron wusste, dass sie zu knapp bemessen waren. Er selbst hatte die Rationierung vorgenommen. Und doch tat er, als sähe er den Hunger in ihren Augen nicht. Er beschleunigte seine Schritte, ließ den Blick über die Menge schweifen. Zu viele dieser Menschen waren ihm fremd. Er kannte ihre Namen nicht, oftmals nicht einmal ihre Gesichter. Von ihrer Gesinnung ganz zu schweigen.
Endlich erspähte er den bulligen Umriss, nach dem er gesucht hatte. Hemmon hatte es sich am Rand der Gruppe bequem gemacht. Er hielt ein Kleinkind auf dem Schoß, von dem Haron wusste, dass es nicht seines war. Allerdings konnte er selbst aus dieser Entfernung erkennen, dass die dazugehörige Mutter allen Grund gab, sich um den Bastard zu kümmern. Eine kurvige Schönheit mit dunkel gefärbten Narben auf den bloßen Armen, die ihr ein wildes, entschlossenes Aussehen verliehen. Ihre schmachtenden Blicke machten diesen Eindruck keineswegs zunichte, vor allem, da Hemmon sie ungeniert erwiderte.
Haron zögerte, wurde langsamer. Wollte er Hemmon wirklich erneut an die Front zerren, fort von dieser Frau?
Dann blitzte in ihm die Erinnerung auf, wie eben dieser Mann sich schnaufend und schwitzend auf der Klonin bewegt hatte, die sie gefoltert hatten – während sie sie gefoltert hatten –, und der Zweifel verschwand. Hemmon war der Richtige für diese Aufgabe, nicht allein durch seinen beeindruckenden Körperbau, sondern weil er unberechenbar brutal sein konnte, wenn Haron ihm das Recht dazu einräumte.
Haron trat neben ihn. »Komm. Ich habe eine Aufgabe für dich.« Es war ihm gleich, wer seine Worte hörte.
Hemmon sah auf. Er stellte keine Fragen, ignorierte das Quengeln des Kindes und drückte es wortlos der Mutter in die Arme.
»Aber Hemmon …«
Der Riese brachte sie mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. Der Aufstand kam an erster Stelle, alles andere danach. Wenigstens das hatte sich nicht geändert.
»Hol deinen Umhang«, forderte Haron, sobald sie den Hauptraum hinter sich ließen. Nun hob Hemmon doch fragend die Augenbrauen. Haron ließ sich auf keine Diskussionen ein. »Los, mach schon.«
Er selbst hatte die Reinen erst dazu aufgefordert, sich nicht länger zu verhüllen, weil dieser passive Protest nichts bewirkte. Nun würde er nicht anfangen zu erklären, weshalb man eben doch manches Mal Kompromisse eingehen musste.
Zum Glück war Hemmon niemand, der ernsthaft wissen wollte, warum etwas gemacht wurde. Ihm war nur wichtig, dass etwas geschah, und dass er dabei sein durfte. Er marschierte los in Richtung seines eigenen Wohnbereichs. Haron wollte ihm folgen, aber eine kleine Gestalt löste sich aus den Schatten und verstellte ihm den Weg.
»Wo wollt ihr hin?«, fragte Ariat.
»Wir haben etwas zu erledigen.«
»Und ich?«
»Du nicht.«
Ariats Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Drohend kam sie näher. Es hätte mehr Eindruck gemacht, wenn sie ihm nicht bloß bis zur Brust gereicht hätte. »Wir sind Partner, hast du gesagt.«
»Nicht in dieser Sache.« Selbst wenn er sie nicht für die Angelegenheit mit Sianna bestrafen wollte, er konnte Ariat bei dieser Sache tatsächlich nicht gebrauchen. Sie war zu labil. Und im Unterschied zu Hemmon gehorchte sie nicht einfach, wenn