Madeleine Puljic

Unter den Narben (Darwin's Failure 2)


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Haut. Fettschwulste wölbten sich um seinen blassen Leib und hingen wie Fremdkörper daran herab.

      Nun war es an Ramin, Abscheu zu empfinden. Er senkte den Blick, um sich nicht zu verraten.

      »Das Kloster war der Regierung unterstellt«, merkte er an. Es erhielt Zuschüsse, um die wachsende Arbeiterschicht versorgen zu können. Was Ramin auch von seinen ehemaligen Kollegen halten mochte, an der Aufgabe des Klosters zweifelte er nicht. In seinen Augen fiel es unter den Schutz des Präsidenten.

      Sepion sah das allerdings anders. »Sie haben nie getan, wofür wir sie bezahlt haben.« Er streckte die Arme aus und wartete darauf, dass Ramin ihm beim Ankleiden half. Als sein Berater ergeben den weichen Stoff ausschüttelte, fuhr der Präsident fort: »Diese sogenannten Priester haben immer nur schlecht von uns gesprochen.«

      »Sie haben die Unterschicht ruhig gehalten«, wandte Ramin ein. Die Verteilung der Ressourcen unter den Arbeitern war nicht nur essenziell, um die Menschen dort unten am Leben zu erhalten, sie war auch im Sinne der Regierung. Wenn Sepion schon nicht die menschliche Verpflichtung des Klosters anerkennen wollte, dann doch wenigstens das.

      Wieder wurde er enttäuscht. »Diese Aufgabe haben sie ja nun ebenfalls gehörig vernachlässigt, meinst du nicht? Insofern haben die Puristen wenigstens einmal etwas Vernünftiges getan, indem sie uns von diesem Ballast befreit haben. Eine unnötige Ausgabe weniger, über die ich mir den Kopf zerbrechen muss.« Er schloss den Kragen und sah seinen Berater durchdringend an. »Wieso kümmert dich das so?«

      Wie so oft waren es halbe Wahrheiten, auf die Ramin zurückgreifen musste. Er log selten, doch noch weniger konnte er frei sprechen. Jedes Wort, jedes Zucken seiner Gesichtsmuskeln konnte ihn verraten. Ramin zwang sich zur Ruhe. »Es wird weitere Aufstände geben«, warnte er. »Schlimmere. Die Reinen haben eine Grenze überschritten, indem sie nun auch Natürliche angegriffen haben.«

      »Gut«, antwortete der Präsident. »Wenn sich die Unterschicht gegenseitig dezimiert, gibt uns das vielleicht die Gelegenheit, Noryak wirtschaftlich wieder einigermaßen zu stabilisieren. Dein wunderbarer Plan zum Wiederaufbau zeigt bisher nämlich keine großen Erfolge.«

      »Es ist ein langfristiger Plan«, gab Ramin zu bedenken. Eine Wirtschaft stabilisierte sich nicht über Nacht, in Kriegszeiten erst recht nicht.

      Doch davon wollte Sepion nichts wissen. »Wie wohl alle deine Vorschläge«, gab er barsch zurück. »Erfolg hat bisher jedenfalls nichts gezeigt. Immer noch wissen wir nicht, wo sich die Aufständischen versteckt halten. Die gefangenen Puristen reden nicht, und die Arbeiter noch weniger. Allmählich glaube ich, meine Minister sabotieren mich mehr, als sie mich unterstützen!«

      Oder du erwartest einfach Wunder, dachte Ramin grimmig. Er tat, was er konnte, um den Bürgerkrieg einzudämmen und Noryak zu retten. Die Stadt nicht nur wiederaufzubauen, sondern sie auch lebenswert zu machen, für alle. Der Wahnsinn der Puristen und die Kurzsichtigkeit des Präsidenten, dem egal war, ob neunzig Prozent der Bevölkerung im Elend lebte oder auf den Straßen starb, erschwerten dieses Vorhaben allerdings gewaltig.

      Er seufzte. Es hatte keinen Zweck, diese Probleme zu erläutern. »Du weißt, dass ich dir und Noryak diene.«

      »Dann tu endlich etwas!«

      »Wir könnten Spione aussenden«, schlug Ramin vor. Der Gedanke entstand aus der Not heraus, aber womöglich war er gar nicht so abwegig. »Geringfügig Optimierte«, führte er weiter aus, »die sich unter die Arbeiter mischen. Die ihr Vertrauen gewinnen und so vielleicht in Erfahrung bringen, wie man an die Puristen herankommt.«

      »Wir sollen Optimierte nach unten schicken?« Ein winziger Hauch von Fassungslosigkeit trat auf das feiste Gesicht des Präsidenten. »Weißt du, wie es dort unten aussieht?«

      Schmutz, Elend, Tod. Ramin wusste das besser als jeder Klon. Doch das war noch nicht alles. »Nicht nur in die unteren Bereiche der Stadt. Die Natürlichen sind misstrauisch. Wenn wir sie erreichen wollen, dann müssen wir ihnen dort begegnen, wo sie alle gleich sind: in den Fabriken.«

      Sepion runzelte dezent die Stirn. »Wir sollen also die Unversehrtheit eines Optimierten gefährden.«

      »Wenn der Aufstand kein Ende nimmt, sind wir alle davon betroffen«, erinnerte Ramin ihn. »Was, wenn die Puristen als nächstes Ziel den Regierungssitz auswählen?«

      Der Präsident zuckte kaum merklich zusammen. Sein eigenes Wohl lag ihm offenbar doch am Herzen. »Meinetwegen«, sagte er. »Aber die Regierung darf damit nichts zu tun haben. Du selbst wirst das Nötige in die Wege leiten.«

      Das überraschte Ramin. Bisher war er nur Berater gewesen, hatte über keinerlei offizielle Aufgaben oder Weisungsrechte verfügt. »Ich, Präsident?«

      Ein künstliches Lächeln erschien auf Sepions Lippen. »Du lässt dich doch als Minister der Geheimnisse titulieren. Damit fallen Spione unter deinen Aufgabenbereich. Kümmere dich darum, und liefere Ergebnisse. Rascher als Jorek, wenn ich bitten darf.« Er warf einen Blick in die Spiegelfläche an der Fensterfront, zupfte sein strähniges Haar zurecht und wedelte ungeduldig mit der Hand in Richtung seines Beraters. »Und jetzt geh. Ich habe noch Wichtigeres zu tun, als mir deine Weisheiten anzuhören.«

      Ramin nickte ergeben. »Ich bitte dich nur, die bisherigen Versuche nicht aufzugeben. Wir müssen die Fabriken am Laufen halten …«

      »Und das neue N4-Center errichten«, unterbrach Sepion ihn. »Das weiß ich selbst. Geh jetzt.«

      Irritiert trat Ramin einen Schritt zurück. »Jawohl, Präsident«, stieß er hervor, doch Sepion beachtete ihn überhaupt nicht mehr.

      Nun, er hatte danach gestrebt, den Präsidenten zu einem selbstdenkenden Mann zu erziehen, der nicht nach den Wünschen seiner Minister tanzte. Das war ihm offenbar gelungen. Jetzt musste er wohl oder übel einsehen, dass er damit auch sich selbst den Einfluss genommen hatte.

      Doch das machte nichts. Sepion hatte ihn mit einer neuen Aufgabe betraut. Statt zu manipulieren, würde er einen Teil von Noryaks Zukunft von nun an selbst bestimmen können.

      Am Untergang des Klosters konnte er nichts mehr ändern, aber wenigstens gab es noch die Gebetsstätten. Wenn es ihm gelang, diesen Krieg zu beenden, konnte er die Priesterschaft selbst wiederaufbauen. Er könnte ein neues Kloster erschaffen, das die Werte des Glaubens auch tatsächlich hochhielt. Mit Priestern, denen ihre Schützlinge mehr am Herzen lagen als der eigene Rang.

      Es gab da auch jemanden, der ihm in den Sinn kam. Der junge Schüler, der Ramin seine Anstellung im Kloster gekostet hatte, weil er den Intrigen der jungen Priester nichts entgegenzusetzen gehabt hatte. Empathisch, gelehrig, pflichtbewusst. Ja, der Junge wäre der Richtige, um die Priesterschaft wieder zu dem zu machen, was sie sein sollte. Die Stütze der Gesellschaft. Ramin würde das Kloster aus seiner Asche heben, mit Atlan als neuem Abt.

      Ranya

      Zuerst waren es nur Gerüchte, die Ranya erreichten. Von einem neuen Gewaltakt der Reinen. Einem, den niemand einordnen konnte. Ein Ziel, das niemand verstand. Also war sie den Berichten gefolgt, hatte den Unterschlupf verlassen, den sie für ihre Gruppe gefunden hatte, und sich auf die Suche nach der nächsten Nachrichtenquelle begeben.

      Sie musste nicht lange suchen. Die Monitore der Hochhäuser übertrugen inzwischen rund um die Uhr die neuesten Schreckensmeldungen, und heute zeigten sie alle dasselbe: ein Feuer, das aus zerborstenen Fenstern schlug, ein heruntergekommenes Gebäude irgendwo in Noryak, verhüllte Gestalten, die ohne jede Hast den Ort des Anschlags verließen. Doch es war nicht irgendein Haus, kein beliebiger Laden, der den Puristen zum Opfer gefallen war. Ranya erkannte die Fassade, das große Tor. Ihr Herz krampfte sich erschrocken zusammen. Das Kloster!

      Wieso? Was hatte Haron davon, den Hort der Priesterschaft niederzubrennen? Die Priester waren nicht ihre Feinde. Einstmals hatte Ranya sogar gedacht, dieser Ort wäre der sicherste in ganz Noryak. Damals, als sie ihren Sohn in die Obhut der Schwarzgewandeten gegeben hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein.

      Atlan. Bei der Erinnerung an den Jungen traten ihr Tränen in die Augen, bahnten sich einen Weg über ihre vernarbten Wangen hinab. Er war in Sicherheit. Es gab keinen