Immaculée Ilibagiza

Die Erscheinungen von Kibeho


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den Zweifeln, die mich so viele Wochen lang geplagt hatten.

      Wenn die selige Jungfrau Maria real ist, dann ist Jesus auch real, überlegte ich. Und wenn Jesus real ist, dann ist auch Gott real … und jedes Wort, das in der Bibel steht! Meine Welt war wieder in Ordnung.

      Als ich an diesem Nachmittag aus der Schule kam, schloss ich mich in mein Zimmer ein, umklammerte meinen Rosenkranz und betete inbrünstiger als je zuvor in meinem jungen Leben: Ich dankte Gott dafür, dass er mich hatte wissen lassen, dass er wirklich existiert und meine Gebete hört.

      DIE GESCHICHTE VON FATIMA HATTE MICH DERART ELEKTRISIERT, dass ich die ganze Nacht wach lag, über die drei jungen Seher nachdachte und mir vorstellte, wie es wohl war, wenn man der heiligsten Mutter persönlich begegnete.

      In meinem zweiten Buch Led by Faith habe ich beschrieben, wie ich, nachdem ich von den Erscheinungen in Fatima erfahren hatte, einen detaillierten Plan ausarbeitete, um die selige Jungfrau Maria zu bewegen, in unser Dorf Mataba zu kommen. Meine Freundin Jeanette und ich gingen zusammen mit ihrem kleinen Bruder Fabrice auf einen kleinen Berg, wo mein Vater seine Ziegen hielt. Wir drei waren fast exakt in demselben Alter wie die Kinder von Fatima, und mitten unter Vaters Ziegen war es nicht schwierig, so zu tun, als ob wir Hirtenkinder wären, wie Lucia, Jacinta und Francisco es gewesen sind. Inbrünstig beteten wir auf dem Berg und baten die selige Jungfrau Maria, dass sie uns erschiene. Und um Mataba noch einladender zu machen, pflückten wir Dutzende schöner Blumen und legten sie im Kreis rund um den Berghang herum. Dann knieten wir uns in der Mitte des Kreises nieder und beteten den Rosenkranz. Als die Muttergottes nicht sofort erschien, beschlossen wir, den Berghang mit einem ganzen Meer von exotischen Blumen zu bepflanzen, damit sie nicht mehr widerstehen konnte, hierherzukommen und dies alles zu bewundern.

      Jeanette und ich waren zuversichtlich, dass die selige Jungfrau Maria kommen und uns viele wichtige Botschaften für die Menschheit anvertrauen würde. Unser Ruf würde sich über ganz Afrika verbreiten, und die Leute würden Hunderte von Kilometern unterwegs sein, um das Wunder von Mataba mitzuerleben. Tausende von Menschen würden sich um unseren Kreis aus Blumen drängen und zusehen, wie die drei jungen Seher Botschaften der Himmelskönigin empfingen. Leider mangelte es uns an Überzeugungskraft. Nach wenigen Wochen wurde es immer schwerer, Jeanettes Bruder dazu zu bringen, mit uns auf den Berg zu steigen. Wenn Fabrice überhaupt mitkam, dann wurde er ängstlich, sobald es dämmerte, und quengelte, wir sollten ihn nach Hause bringen. Meistens reichte die Zeit nur für einen einzigen Rosenkranz, ehe wir uns wieder an den Abstieg machen mussten, und es war gar nicht daran zu denken, auch noch Blumen für die selige Jungfrau Maria zu pflanzen. Als Fabrice dann nach einer Weile gar nicht mehr mitkommen wollte, gaben Jeanette und ich es auch auf, weil wir ja nun keinen dritten Seher mehr hatten wie in Fatima.

      Und doch hat Maria unsere Gebete erhört und ist nach Ruanda gekommen. Nur waren wir gerade nicht auf dem Berg.

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      1»Aschenblüte«, Ullstein Verlag (Anm. d. Verl.).

      2Dieser Titel ist nicht auf Deutsch erschienen (Anm. d. Verl.).

      Kapitel 2

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      Maria kommt nach Ruanda

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      Drei Wochen, nachdem Jeanette und ich es aufgegeben hatten, auf den Berg zu steigen und dort dafür zu beten, dass uns die selige Jungfrau Maria erschiene, kam mein Vater von der Arbeit nach Hause und verkündete mit lauter Stimme, dass in Ruanda ein Wunder geschehen sei.

      »Ein Wunder?! Was für eins, Papa?! Was ist passiert?!«, rief ich und rannte zu ihm hin. »Erzähl, erzähl!«

      »Weißt du nicht, dass Geduld eine große Tugend ist?«, fragte mein Vater mich schmunzelnd. »Was man bekommen möchte, lohnt auch das Warten, Immaculée, das gilt sogar für Wunder. Also werden wir zuerst mit der Familie zu Abend essen und dann werde ich dir, deiner Mutter und deinen Brüdern die Neuigkeiten beim Igitaramo erzählen.«

      Der Igitaramo, seit vielen Jahrhunderten eine altehrwürdige ruandische Tradition, ist ein ganz einfacher Brauch von auserlesener Schlichtheit. Nach dem Abendessen setzen sich die Familien gemeinsam um ein großes gemeinsames Feuer und singen Lieder zum Gedenken an die Ahnen. Tänzer in bunten Gewändern unterhalten die Dorfbewohner, und die besten Redner berichten Neues aus anderen Dörfern oder erzählen alte Geschichten und Stammeslegenden. Außerdem findet sich auch die Gelegenheit, sich Klatsch zu erzählen, Streitigkeiten beizulegen, Witze zu machen und Ehen zu arrangieren. Der Igitaramo hat die europäische Kolonialisierung überlebt und ist nach wie vor ein wichtiger Teil der ruandischen Kultur. (Aktuell überträgt Radio Ruanda jeden Abend nach neun Uhr eine Rundfunkversion des Igitaramo: eine Sendung voller Geschichten und Lieder.)

      Unsere Familie hatte weder Fernsehen noch Telefon, und so verbrachten wir die freie Zeit meistens gemeinsam. Vater nutzte den Igitaramo mit Vorliebe für Diskussionen; wenn er also beim Igitaramo mit uns über das Wunder diskutieren wollte, dann handelte es sich wahrscheinlich um etwas, was wir näher betrachten sollten.

      Als wir mit dem Essen fast fertig waren, erzählte er uns, dass er Pater Clement in der Nachbargemeinde besucht hatte. Pater Clement war der Priester, der in der Region von den Menschen am meisten verehrt wurde, und zudem war er ein zutiefst frommer, sehr gebildeter und kluger Mann. Und er war ein enger Freund der Familie; mit meinem Vater verstand er sich besonders gut, und meine Brüder und ich mochten ihn so sehr, dass wir ihn Opa nannten.

      »Ein Priester in Kibeho hat Clement von einem sechzehnjährigen Mädchen namens Alphonsine Mumureke erzählt, die sagt, dass ihr die Jungfrau Maria in den letzten zwei Wochen wenigstens fünfmal erschienen sei«, berichtete Vater. »Das Mädchen behauptet, die Muttergottes bitte darum, als die ›Mutter des Wortes‹ in Ruanda bekannt zu werden, und der allmächtige Gott habe sie mit Botschaften für die ganze Welt vom Himmel gesandt.«

      »Oh, ich wusste es, ich wusste es, ich wusste es!«, schrie ich, sprang auf und tanzte um den Tisch herum. »Es gibt sie, und sie ist gekommen, um uns zu besuchen!« Tränen strömten mir über die Wangen und ich war außer mir vor Freude und zugleich tieftraurig. Ich war der Muttergottes dankbar, dass sie nach Ruanda gekommen war, aber ich hätte mich ohrfeigen können, weil ich meine Ausflüge auf den Berg aufgegeben hatte: Hätten wir doch nur vor drei Wochen die Blumen gepflanzt! Warum habe ich nicht weitergebetet? Maria hätte Jeanette und mir erscheinen sollen … da ist ganz eindeutig etwas fürchterlich schiefgegangen!

      Meine Enttäuschung war jedoch nicht von langer Dauer, weil mir bewusst wurde, dass meine Gebete tatsächlich erhört worden waren. Maria liebte mich so sehr, dass sie nach Ruanda kam! Was machte es da schon aus, dass sie Mataba ausgelassen hatte und in einem anderen Dorf erschienen war? Ruanda war ein kleines Land – ich könnte einfach nach Kibeho gehen, wo immer das war, und sie dort sehen!

      »Papa, hat Alphonsine beschrieben, wie die Jungfrau Maria ausgesehen hat? Was hatte sie an und was hat sie noch gesagt? Wo ist Kibeho? Wir müssen sofort los … ich wette, sie ist noch da! Wir können im Auto weiteressen!«, schnatterte ich und hopste weiter um den Tisch herum.

      »Setz dich, Immaculée«, sagte Vater lachend. »Ich weiß sonst nicht viel, nur noch, dass sie in eine katholische Mädchenschule geht und in eine Art Trance verfällt, wenn die Erscheinungen beginnen, und sie alles um sich herum vergisst. Wenn es dann vorbei ist, fällt sie in eine Art Koma.

      Aber wir fahren nicht nach Kibeho, schlag dir das aus dem Kopf. Das ist weit weg von hier im Süden, in der Provinz Gikongoro an einem ganz entlegenen und extrem unzugänglichen Ort. Selbst wenn ich dorthin fahren wollte, was nicht der Fall ist, würde ich es auf keinen Fall riskieren, bei Nacht auf diesen Straßen durch die Berge zu fahren. Und außerdem ist das, soweit wir wissen, bloß eine