wenn er nicht glauben würde, dass etwas Wahres daran sein könnte, oder, Papa?«, fragte ich.
»Da hat Immaculée recht, Leonard«, stimmte meine Mutter mir zu.
Mama respektierte, genau wie mein Vater, Pater Clement sehr und wusste, dass etwas, was er für erwähnenswert hielt, auf keinen Fall unwichtig sein konnte. »Clement tratscht nicht und setzt auch keine Gerüchte in Umlauf; er spricht nur über etwas, wenn er sich seiner Sache sicher ist«, fügte sie hinzu und schaute meinen Vater neugierig und erwartungsvoll an.
»Nun ja, das stimmt. Aber er hat es mir im Vertrauen gesagt, und ich ärgere mich über mich selbst, dass ich überhaupt davon angefangen habe. Ich wollte Immaculée nur eine Freude machen, weil ich weiß, wie sehr sie diese Geschichten liebt. Aber offenbar war die Freude zu groß«, fügte er dann trocken hinzu, weil ich immer noch durch den Raum sprang. Er wies auf meinen Stuhl und gab mir wortlos zu verstehen, dass ich mich hinsetzen sollte.
»Ich will jetzt, dass ihr euch alle beruhigt und hört, was ich zu sagen habe«, fuhr Vater fort. »Wunder können geschehen, aber dazu braucht es Glauben, Gebet und harte Arbeit. Aimable und Damascene sind die Besten in ihrer Klasse, weil sie hart gearbeitet und weil wir jeden Abend gebetet haben, dass sie eine gute Schule besuchen können. So geschehen Wunder. Wir sollten nicht erwarten, dass die Jungfrau Maria plötzlich aus dem Nichts erscheint und uns das Schulgeld gibt, oder dass Jesus kommt und den Jungs ihre Klausuren schreibt.
Pater Clement hat mit mir darüber gesprochen, weil es eine so wichtige Angelegenheit ist, die viel Gutes, aber auch eine Menge Schaden anrichten kann. Ich fahre ja beruflich von einer Schule zur nächsten, und deshalb hat er mich gebeten, die Ohren offen zu halten und zu hören, was die Leute über diese angebliche Marienerscheinung sagen. Anscheinend hat dieses Mädchen, diese Alphonsine, an ihrer Schule schon einen ziemlichen Wirbel verursacht und viele der Nonnen und Lehrerinnen sind verärgert. Wer weiß, womit wir es zu tun haben? Das Mädchen könnte verrückt oder, was Gott verhüten möge, von Dämonen besessen sein … das sähe dem Teufel gar nicht so unähnlich.«
Mein Vater war nicht zuletzt deshalb als Teenager zum Katholizismus konvertiert, weil er die Jungfrau Maria, die für die Protestanten in der Regel keine so große Bedeutung hat wie für die Katholiken, so sehr liebte und verehrte. Deshalb hatte ich eigentlich erwartet, dass er sich über die Nachricht von einer Marienerscheinung in Ruanda freuen würde – doch genau wie die Kirche selbst begegnete er allem Übernatürlichen mit tiefem Misstrauen. Dennoch hatte die bloße Möglichkeit, dass die selige Jungfrau Maria an einem Ort erschiene, der gar nicht so sehr weit von unserem Zuhause entfernt lag, seinen Glauben und seine intellektuelle Neugier angefacht. Er war nun selbst in der Stimmung, darüber zu debattieren.
»Also, was haltet ihr von alledem?«, fragte er und schob als Signal dafür, dass das Abendessen beendet war, seinen Teller in die Tischmitte.
Alle fingen gleichzeitig an zu reden, und schon war die Diskussion in vollem Gange. Meine älteren Brüder glaubten kein einziges und ich glaubte jedes Wort. (Mein jüngerer Bruder war noch zu klein, um zu verstehen, worüber wir diskutierten.) Ich rief: »Ich habe wochenlang gebetet, dass die Muttergottes in Ruanda erscheint, und jetzt ist sie da! Es muss wahr sein – ich spüre es in meinem Herzen!«
»Lasst uns ins Wohnzimmer gehen«, sagte Vater und nahm Kurs auf seinen Lieblingssessel. »Es ist Zeit für den Igitaramo.«
Wir diskutierten bereits eifrig, als meine Brüder und ich den Raum betraten.
»Immaculée, sei nicht so naiv«, spottete Aimable. »Vater hat es doch schon gesagt: Wahrscheinlich handelt es sich nur um eine große Lüge von irgendeinem verrückten Kind, das keine Freunde hat.
Wenn die Jungfrau Maria nach Ruanda käme, meinst du nicht, dass sie dann in Kigali erscheinen würde? Da gibt es wenigstens eine Kathedrale! Ich habe noch nie von Kibeho gehört – niemand kennt dieses Dorf!«, fügte Damascene hinzu. »Nie im Leben würde die Jungfrau in einem Dorf erscheinen, das niemand kennt!«
»Und was ist mit Fatima und Lourdes?!«, konterte ich. Damascene war einen Moment lang sprachlos.
»Steigere dich da bitte nicht so hinein, Immaculée«, sagte Aimable. »Ich weiß, wie sehr du die Muttergottes liebst, aber versuch doch mal realistisch zu sein. Das ist wahrscheinlich bloß wieder so eine katholikenfeindliche Aktion, mit der die Jungfrau Maria in Verruf gebracht werden soll. Weißt du nicht mehr, wie sie letztes Jahr beinahe jede Statue der seligen Jungfrau Maria im ganzen Land zerstört haben? Sogar deine Lieblingsstatue – weg, alle zerstört! Ich wette, das ist wieder so eine Gemeinheit, um die Leute gegen die Katholiken und gegen die Jungfrau Maria aufzubringen.« Aimable war sichtbar erbost, als er sich zu meinem Vater umdrehte und hitzig hinzufügte: »Papa, jemand sollte dem ein Ende setzen, ehe es außer Kontrolle gerät. Ich meine, jemand sollte dem jetzt sofort ein Ende setzen!«
Mein ältester Bruder hatte etwas zur Sprache gebracht, das für die Katholiken in Ruanda – vor allem solche wie mich, die Maria so sehr liebten – äußerst schmerzlich gewesen war. Gerade erst war ein hässlicher, jahrelanger Feldzug gegen die selige Jungfrau Maria zu Ende gegangen, bei dem im ganzen Land Hunderte von Marienstatuen in Stücke geschlagen worden waren – darunter auch die wunderschöne Skulptur in unserer Pfarrkirche, vor der ich so viele ruhige und friedvolle Stunden im Gebet verbracht hatte. Niemand wusste mit Bestimmtheit, wer das getan hatte oder warum. Manche vermuteten als Auslöser ein gezielt gestreutes Gerücht, wonach die Priester in diesen Statuen Gold versteckt hätten; andere hielten es für das Werk einer extremistischen protestantischen Gruppierung, die die Statuen als eine Art Götzenkult, der das Bild der Gottesmutter entweihte, betrachtete. Doch ich glaube, die meisten dachten, hier seien Teufelsanbeter am Werk, die zum Schlag gegen die Muttergottes ausholten.
»Aber vielleicht ist Maria nach Ruanda gekommen, weil das geschehen ist«, sagte ich zu Aimable. »Sie ist gekommen, um uns zu zeigen, dass sie existiert! Vielleicht wusste der Teufel, dass sie kommen würde, und hat deshalb vorher all ihre Bilder zerstört!«
»Jetzt redest du wie ein kleines Mädchen, Immaculée«, sagte mein Bruder verächtlich. »Das ist ein schlechter und dummer Scherz; mach daraus keinen Krieg zwischen Himmel und Hölle.«
»Ihr Kinder habt gut debattiert«, schaltete sich mein Vater ein. »Aber sei nicht überheblich, Aimable, nur weil deine Schwester erst elf Jahre alt ist. Sie ist ein kluges Mädchen und sie hat ein gutes Argument vorgebracht. In der Bibel steht, dass es in der Tat einen Krieg zwischen Gut und Böse gegeben hat, ehe der Satan aus dem Himmel verstoßen wurde.« Dann drehte er sich zu mir und sagte: »Sprich weiter, Immaculée. Ich will hören, was du denkst.«
Es war das erste Mal, dass Vater mich in einem Gespräch nach meiner Meinung fragte, und ich argumentierte umso leidenschaftlicher: »Ich denke, dass die Jungfrau Maria nach Ruanda gekommen ist, um uns daran zu erinnern, dass ihre Liebe uns näher zu Jesus bringt. Vielleicht ist sie gekommen, weil der Teufel schon vorher hier war.«
Aimable stieß einen gedehnten Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Also gut, ich denke, dass es entweder ein dummer Kinderstreich oder eine Aktion ist, die gegen die Katholiken gerichtet ist. Jedenfalls ist es kein Wunder«, entgegnete er.
»Warum sollte die Jungfrau Maria wollen, dass man sie ›Mutter des Wortes‹ nennt? Das klingt zu dick aufgetragen«, bemerkte Damascene. »Ich habe diesen Namen noch nie gehört und er klingt wirklich ein bisschen dick aufgetragen«, stimmte Vater zu.
»Weißt du irgendetwas über diese Alphonsine, Papa? Wie alt ist sie? Ist sie in Kibeho aufgewachsen?«, fragte Aimable.
»Nein, sie stammt aus einem Dorf in Kibungo.«
»Kibungo!«, riefen Damascene und Aimable gleichzeitig.
»Das erklärt alles. Was immer da in Kibeho geschieht, es ist ganz bestimmt ein Teufelswerk«, sagte Damascene.
Kibungo war eine dicht bewaldete Provinz im östlichen Ruanda und galt als ein Zentrum der heidnischen Kulte. Es hieß, dass dort Voodoo und schwarze Magie praktiziert wurden und dass tief im Dschungel Satanisten lebten.
»Zwei