gar nicht. Der Punkt ist vielmehr, dass sie ein Mittel entwickeln müssen, um zu verhindern, dass die Seuche Monate später erneut ausbricht, womit der ganze Albtraum von vorne beginnen würde. Übergreifende Infektionskrankheiten treten in drei Wellen auf, und ein Impfstoff würde die zweite im Keim ersticken, ja könnte die Welt sogar für immer von Lyssa befreien.
Die Blondine auf den anderthalb Meter hohen Leinwänden legt ihr überlegenes Lächeln allmählich ab und wird es zuletzt müde, das Schild hochzuhalten, weshalb sie es an jemand anderen abgibt. Nach einer langen, müßigen Nacht sind auch die Aufrührer abgespannt. Mit der Abrieglung des Komplexes bleibt ihnen nicht nur der Zugang in die Labors verwehrt; sie sind selbst im Institut eingesperrt.
Die Maßnahme läuft unter Code Orange: Niemand betritt oder verlässt das Gebäude.
Die beiden Nationalgardisten sitzen mit auf dem Rücken gefesselten Händen am Boden und sehen entmutigt aus. Hinter ihnen wendet sich ein Teenager von seinen Freunden ab, zieht ein Sandwich aus einer braunen Papiertüte und fängt an, es hinunterzuschlingen.
Hardy schaut mit rumorendem Bauch dabei zu und verzehrt sich dabei praktisch vor Hunger. Er versucht, sich den Belag vorzustellen: Schinken und Käse mit Senf? Truthahn mit Tomate und Speck, oder ist es ein Sandwich kubanischer Art, wie es sie um die Ecke gibt, auch mit Schinken, dazu aber gebratenem Schweinefleisch, Salami, Schweizer Käse, Gürkchen und Senf auf landestypischem Brot? Sein Magen knurrt.
»Wie dem auch sei«, fährt Jackson fort. »Ich will eigentlich nur sagen, dass dort unten vielleicht gerade einmal 30 Leute lauern. Falls Sie einen Impfstoff haben, wäre es doch kein Problem, ihnen ein wenig davon zu geben.«
Hardy spürt, dass er gleich ausrastet, doch er lässt seine breiten Schultern hängen und schüttelt niedergeschlagen den Kopf. »Es gibt kein magisches Heilmittel, Stringer«, beteuert er, »auch wenn ich mir wünsche, wir hätten eins.«
Dann seufzt er laut und schickt sich an, zur Tür zu gehen.
»Wohin wollen Sie, Dr. Hardy?«
Der Wissenschaftler bleibt vor dem Ausgang stehen. »Zu den Labors, Stringer«, sagt er in einem bemüht heroischen Ton, soweit er diesen anschlagen kann, damit es wie ein Filmzitat klingt. »Ich habe noch einen Berg Arbeit zu erledigen, wenn ich diese Krankheit eindämmen will.«
Daraufhin schnauft er wieder und verlässt die Sicherheitszentrale, um etwas zu finden, das wenigstens annähernd zum Frühstück taugt.
New York kam mir schon immer wie ein fremdes Land vor
Sergeant First Class Mike Kemper nickt Mooney und Wyatt zu, die damit beschäftigt sind, das Blut vom Flurboden aufzuwischen, bevor er Bowmans provisorische Kommandozelle betritt. Er kann nicht aufhören, sich zu fragen, ob der Lieutenant noch immer das Zeug dazu hat, das Platoon zu befehligen.
Kemper kennt Bowman besser, als jeder andere der Einheit und sogar Captain West. Seine Position zieht dies nach sich: Unteroffiziere betreuen nur ihre Einheiten, doch als Platoon Sergeant gehört es zu seinen Aufgaben, auch auf den Lieutenant zu achten und ihn zu beraten.
Am Abend zuvor äußerte sich Bowman zweideutig zu neuen Befehlen und stellte sie bei den Unteroffizieren zur Diskussion. Dann wies er das Platoon an, auf Zivilisten zu feuern.
Im Irak arbeitete Kemper ihn fast ein Jahr lang ein und sah ihn zu einem intelligenten Befehlshaber heranreifen, der auf seine Männer achtet und vorneweg marschiert, statt sich zurückzuhalten. Dies aber ist eine völlig neue Situation. In einem solchen Albtraum mag ein Kommandant Entscheidungen aufschieben, überstürzt treffen oder beides. Vorschnelle wie unentschlossene Anführer laufen Gefahr, den Tod ihrer Männer zu verschulden.
Es war richtig, das Feuer auf die Zivilisten eröffnen zu lassen, zog man die Zahl der Angreifer in Betracht. Hätte Bowman das Platoon nicht zum Schießen angehalten, wäre es überrannt und umgebracht worden. Diese Richtigkeit ergab sich jedoch erst rückblickend, denn genauso hätte es sich nur um eine Handvoll Aggressoren handeln können. In dem Fall würde man den Lieutenant jetzt für einen Eiferer halten, der allzu schnell neue Einsatzregeln etablieren will, damit er auf die Zivilbevölkerung schießen kann.
Die Sache ist die: Bowman hätte falsch liegen können – furchtbar falsch. Deshalb sinnt Kemper weiter darüber nach, ob sein Vorgesetzter ein durchdachtes, berechnetes Risiko einging oder panisch handelte. Nicht, dass er ihm nicht gewogen wäre, aber er ist sich nicht sicher.
Als er hereinkommt, sitzt der Lieutenant im Lichtkegel der Schreibtischlampe und blickt starr auf das Funkgerät vor sich. Dann sieht er hoch und hebt müde eine Hand. Er trägt keinen Mundschutz. »Falls Sie kommen, um mich unter Arrest zu stellen«, beginnt er. »Das habe ich bereits selbst versucht.«
Der Platoon Sergeant blinzelt. »Sie unter Arrest stellen?«
»Für meinen Verstoß gegen Artikel 118 des Militärjustizgesetzes, Mike.«
»Mord?«
Der Lieutenant nickt und ergänzt: »Dafür, dass ich meine Leute zu einer Rotte von Kindermördern gemacht habe.«
»Mein Gott, ich bin nur gekommen, um mich zu vergewissern, ob Sie einen Nachbericht hören wollen.«
Bowman sagt nur: »Gewissermaßen …«
Kemper nimmt Platz, nimmt seine Maske ab, zündet den Stummel einer übel riechenden Zigarre an und seufzt, als er eine lange Rauchfahne ausatmet.
»Sie möchten wissen, was ich denke?«
»Genau, Mike. Das möchte ich.«
Er hätte Schwierigkeiten, es zu erklären, doch Kemper geht es im Augenblick nicht um den moralischen Aspekt einer Hinrichtung. Moral ist Luxus in einer Situation wie dieser. Vielmehr liegt ihm die offene Frage nach dem Urteilsvermögen des Lieutenant am Herzen. Eine Frage, deren Antwort er womöglich nie erfährt.
»Lieutenant, was heute Abend hier geschah, ist schrecklich, doch Sie bewegten sich im Rahmen der Einsatzregeln und hatten nur wenige Sekunden Zeit zur Entscheidung, um ihr Platoon zu schützen«, fasst er wahrheitsgemäß zusammen. »Das menschliche Gewissen ist eine Sache für sich, aber die Army wird die Ansicht vertreten, dass Sie richtig gehandelt haben.«
»Das hat auch Captain West gesagt.«
»Sie erzählten ihm von dem Vorfall? Was meinte er noch?«
»Er sagte: ›Ich habe genug Ärger am Hals, also führen Sie ihre verfickten Befehle aus.‹ Zitat Ende.«
Kemper lehnt sich auf dem Stuhl zurück und lässt das Gehörte sacken.
»Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Haben Sie sich an irgendeinen anderen Zugführer gewendet?«
»Das ist gerade das Problem, Mike: die Einsatzleiter von Operation Quarantäne beschneiden das Netz um alle Frequenzen, außer dem Notfunk. Da ist etwas Gewaltiges im Gange, und wir werden ausgeschlossen. Ich habe keinerlei Informationen zur Hand, nicht einen Ausschnitt vom großen Ganzen.«
Kemper begreift so langsam, wie Bowman tickt: Die Lage hat sich verändert, und mit ihr der Regelkanon, also will er den Grund dafür herausfinden. Gelingt ihm das, kann er stimmige Entscheidungen treffen und vielleicht vor sich selbst rechtfertigen, warum er seinen Männern befahl, über 40 Zivilisten kaltblütig niederzuschießen.
»Momentan fühlt sich jeder dreckig und außerstande, seine Uniform zu tragen. Die Moral ist am Boden, also können wir vor den Jungs nicht wankelmütig auftreten. Sie brauchen uns als ihre Anführer.«
Bowman erstarrt, bevor er verlegen lächelt. »Es geht demnach jetzt überhaupt nicht um mich?«
»Nein, Sir«, bestätigt Kemper geruhsam.
»Was ich an dem ganzen Durcheinander so verrückt finde, ist der Eindruck, wir befänden uns in einem fremden Land und seien unser eigener Gegner. Ich komme mir vor, wie in jener Folge von Twilight Zone, als die Armee Kriegsverbrechen beging und von Gott bestraft wurde, indem er die Wirklichkeit umbiegt und die USA zum Irak macht. So mussten wir herausfinden, wo unser Fehler lag, oder ihn erneut an unseren Mitbürgern begehen.«
»Sir, bei allem Respekt, Sie machen sich