dass er kaum einen klaren Gedanken fassen kann.
Sie betreten das Gebäude, Susan zeigt nach oben.
»Dritter Stock.«
Sie steigen langsam und leise die Treppe hinauf. Boyd geht mit seinem Karabiner in Anschlag vor, wohingegen sich Susan sichtlich zaudernd hinter ihm an die Mauer drückt.
Auf der ersten Etage zuckt Boyd zusammen, als hinter einer der Türen jemand brüllt. Eine Frau fleht einen gewissen John an, ihr nicht wehzutun. Ihre Stimme klingt zunehmend schriller, bis sie vom Poltern herumgeworfener Möbelstücke übertönt wird und sich beim darauffolgenden Ringen am Boden in einem lang gezogenen Schrei des Entsetzens überschlägt.
Dann Schweigen.
Boyd schluckt angestrengt, dreht sich zu Susan um und sieht Tränen über ihre Wangen laufen.
»Ich kenne die Frau«, sagt sie. »Sie und ihren Mann.«
»Schaffst du es weiter nach oben?«
»Sie haben ein Baby.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll; ich weiß nicht, ob wir überhaupt etwas tun können.«
»Es tut mir so leid, Rick.«
»Du bist eine mutige Frau.« Er fühlt sich ihr nun sehr nahe. Ich könnte mich in dieses Girl verlieben, denkt er und fügt hinzu: »Gib nicht auf.«
Sie nickt und zittert heftig, aber sie setzen ihren Aufstieg fort. Im zweiten Stockwerk schwant Boyd Übles. Aus einer Wohnung dringen gurgelnde Laute auf den Flur, dazu gleichmäßige Schritte, die ihn an ein Tier im Käfig erinnern.
Die Wand bebt unter einer Erschütterung.
»Lass mich zuerst bei uns anrufen«, verlangt Susan. »Mal sehen, ob jemand drangeht, in Ordnung?«
Er stimmt zu, dankbar für den einstweiligen Aufschub der Anspannung.
Susan nimmt ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählt eine Nummer, bricht den Rufaufbau jedoch schon nach wenigen Sekunden wieder ab. »Nichts«, bemerkt sie und erbleicht.
Er möchte sie trösten, bringt aber nichts weiter fertig, als zu nicken und einen Blick an die Decke zu werfen. Sie gehen weiter bis zum nächsten Absatz. Dort zeigt sie auf eine Tür und sagt: »Da ist es, gleich dort.«
Boyd reibt sich Schweiß aus den Augen, blinzelt, nickt wieder und stemmt den Kolben seines Gewehrs gegen eine Schulter. »Packen wir's.«
Da hört er, wie sich hinter ihm eine Tür öffnet. Bevor er sich umdrehen kann, schlägt etwas Wuchtiges gegen sein Bein, das sofort einknickt. Hände greifen nach seiner Waffe. Man drückt ihm grob den Lauf einer Pistole an die Schläfe.
»Lass ihn in Frieden, Mann«, hört er.
»Susan!«, ruft er und streckt sich nach ihr aus, doch sie wirft sich in die Arme eines großen, muskulösen jungen Manns. »Ich hab es getan, Baby«, sagt sie und küsst ihn innig. »Ich hab es getan.« Ihr Prahlen vergeht rasch in hysterischem Schluchzen, da sie ihr Gesicht an seine Brust schmiegt. »Ich hab es getan, du gottverfluchter Bastard.«
Der Kerl spricht einen anderen an, der ein Stück Rohr festhält.
»Sie hätte nie rausgehen dürfen, um das zu machen.«
»Und trotzdem ist sie gegangen und heil wieder zurückgekommen. Auftrag ausgeführt.«
»Sie ist total fertig, schau sie doch an. Sie wäre da draußen fast krepiert.«
Das Ganze ist eine Falle, realisiert Boyd. Das Handy fungierte als Zeichen. »Williams hat geahnt, dass deine Story erfunden ist und du ein Junkie bist«, sagt er und unterdrückt Tränen vor Schmach und vor Wut. »Ich hätte ihm glauben sollen.«
»Junkie?«, hakt derjenige mit der Pistole grinsend nach. »Wir sind an der Universität von New York eingeschrieben, ich im vormedizinischen Studium, und Susan belegt Philosophie als Hauptfach, verdammt.«
Der Typ mit dem Rohr geht in die Hocke und sieht Boyd in die Augen. »Nicht persönlich nehmen, Kumpel. Tut mir echt leid, dass ich dein Bein verletzt habe, aber wir brauchen dein Gewehr und was du an Munition dabeihast; kannst dich gleich wieder verziehen.«
Der mit der Pistole schaltet sich erneut ein: »Wir müssen noch heute Nacht nach Jersey übersetzen und benötigen Waffen für den Fall, dass wir uns durch einen Schwarm dieser sabbernden Irren kämpfen müssen. Die Knarre haben wir von einem toten Cop. Dann kamen Bob und Susan auf die bescheuerte Idee, den einen oder anderen von euch herzulocken und eure Kanonen zu klauen. Kaum zu fassen, dass es funktioniert hat; es war ein dummer Plan.«
Boyd erwidert mit finsterem Blick: »Was wollt ihr in New Jersey?«
»Einen Platz finden, an dem wir ausharren können, während die Welt den Bach runtergeht.«
»Die Welt geht nicht den Bach runter.«
»Bist du blind? Hast du nicht gesehen, was da draußen abgeht, mein Freund?«
»Ich bin nicht dein Freund«, giftet Boyd ihn an.
Die Sportskanone mit Susan im Arm übernimmt wieder. »Weißt du, dir steht immer noch frei, mit uns zu kommen.« Seine beiden Komplizen versuchen lauthals, ihn zum Schweigen zu bringen, aber er fährt ungerührt fort: »Wir haben zwar dein Gewehr, wissen aber nicht, wie man es richtig einsetzt. Jemanden wie dich können wir gebrauchen. Ich bekam fast einen Herzinfarkt, als wir dich überwältigt haben, aber du kennst dich mit diesem Zeug aus. Was meinst du?«
Die anderen sehen ihn erwartungsvoll an.
Eine Viertelstunde später humpelt Boyd zügig die Straße hinunter und schreckt bei jedem Schritt zusammen, da der Schmerz wie ein Stromschlag durch sein Bein schießt.
Er ist allein.
Diese blöden, verrückten Kids schaffen es nicht bis nach New Jersey, denkt er. Sie setzen nirgendwohin über. Ob bewaffnet oder nicht: Falls es so schlimm wird, wie sie vorhergesagt haben, werden sie dran glauben.
Er stößt auf einen Kranken, der zuckend mit dem Gesicht auf dem Asphalt mitten auf der Straße liegt, und macht einen weiten Bogen um ihn.
Nach allem, was er heute Abend gesehen und gehört hat, scheint es ihm beim Zweiten Platoon der Kompanie Charlie am sichersten zu sein, inmitten von geborenen Killern wie Hicks oder Ruiz, die ihm den Rücken freihalten. Er umgibt sich lieber mit ihnen, als sein Glück mit einem Haufen Pistolen schwingender Mittelklasse-Klugscheißer vom College zu versuchen – auch wenn ihm Ruiz einen zweiten Darmausgang in den Hintern treten wird, weil er ausgebüxt ist und sein M4 verloren hat.
Noch drei Blocks, und er ist wieder dort, wo er hingehört.
Er zerbricht sich erneut den Kopf über eine stimmige Ausrede dafür, dass er seinen Posten verließ und die Waffe mitsamt ihrer Munition nicht mehr besitzt, doch sein müdes Hirn spuckt nach wie vor nichts aus. Ein Infanterist, der seine Waffe verliert, ist wie ein Samurai, dem sein Schwert abhandenkommt. Davon wird er sich niemals reinwaschen können.
Er hört ein Glucksen im Dunkeln. Als er sich umblickt und eine Deckung sucht, findet er keinen Platz, wo dies auf Anhieb möglich wäre. Von weiter unten auf der Straße schreiten zwei finstere Gestalten auf ihn zu. Er schlägt ein schnelleres Schritttempo an, da flammt der Schmerz in seinem Schenkel auf, dass er Sternchen zu sehen glaubt. Seine Verfolger haben den Abstand bereits verkürzt. Ihre Gesichter bleiben weiterhin unkenntlich im Schatten.
Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu kämpfen.
Dann sei es eben so. Zum ersten Mal in dieser langen Nacht ist Boyd die Ruhe selbst. Soviel nimmt er noch wahr. Die Collegeflegel haben sein Maschinengewehr mit Bajonett gestohlen, aber nicht sein Messer – einen richtig krassen Saufänger, der im Schaft einer seiner Stiefel steckt. Er zückt die Klinge und wartet.
Lauf, lauf, verdammt noch mal, lauf
Der Flur im Krankenhaus, hinter der verglasten Doppeltür, ist nahezu überfüllt mit Leuten, die in Pyjamas, Papierkitteln und OP-Kleidung umherschlurfen oder einfach nur still dastehen. Am ganzen Körper zuckend lassen sie ihre Köpfe im grellen Licht der Neonröhren kreisen. Ihre Augen glotzen weit aufgerissen ins Leere.