einen Tollwütigen unter Kontrolle zu bringen. Oder, die ihren Nachbarn verpfiffen haben, der irregeworden ist und andere anfällt. Mehr Menschen, als uns lieb sein sollte.«
»Was erzählen Sie ihnen?«, möchte Sergeant Lewis wissen. Mit seinen 1,90 m Körpergröße ist er ein Riese von einem Mann. Damals, als er als bester Sportler der Einheit galt, nannten ihn die Soldaten hinter vorgehaltener Hand voller Bewunderung Achilles, aber dem ist schon seit einiger Zeit nicht mehr so. Nach der Geburt seines Sohnes gewöhnte er sich das Rauchen ab, lies es etwas lockerer angehen und legte ein paar Pfunde zu. Seine naturgegebene Aggression blieb hingegen unverändert, falls er mit der Zeit nicht sogar noch bissiger geworden war. »Welche Anweisungen geben Sie ihnen?«, fügt er hinzu.
Ruiz zieht die Schultern hoch. »Nach Hause zurückzukehren und die Cops zu verständigen.«
»Und damit lassen sie sich abspeisen?«
»Sie behaupten, äh … die Cops gehen nicht ans Telefon.«
Lewis gestikuliert mit seinen breiten Händen. »Wir müssen hinausgehen und anfangen, diesen Leuten zu helfen.«
»Negativ«, erwidert der Lieutenant mit nachdrücklichem Kopfschütteln.
»Aber deshalb sind wir doch hier, Sir, nicht wahr?«
»Kommt überhaupt nicht infrage. So lautet unser Auftrag nicht. Die Armee ist im Falle von inneren Unruhen die letzte Option zur Schlichtung. Wir sind nicht die Polizei; man hat uns zwar im Umgang mit nicht-letalen Waffen ausgebildet, aber uns stehen keine zur Verfügung. Wenn wir eingreifen, verstricken wir uns wieder so wie heute und töten Zivilisten.«
»Mir scheint es so, als würden überall Menschen getötet, während wir hier hocken und unsere Zeit verschwenden«, sagt Lewis verbittert. »Wozu dient dieser Einsatz, wenn nicht, um die Menschen hier zu beschützen?«
»Ich kann Ihnen keine Antworten geben, die Sie hören möchten«, entgegnet Bowman. »Hier geht es vor allem um unsere Position. Unser Befehl bleibt der gleiche: Das Krankenhaus absichern. Dort draußen würden wir mehr Schaden anrichten, als etwas zu verbessern.«
Kemper nickt. Es erscheint logisch. Man schlägt keine Mücke mit einem Hammer breit.
Bowman räuspert sich erneut und schiebt behutsam nach: »Ich sollte allerdings noch anmerken, dass sich die Einsatzregeln in Anbetracht der jüngsten Ereignisse geändert haben.«
Die Unteroffiziere beginnen zu fluchen.
Wer über 30 Tage lang unerlaubt abwesend bleibt, gilt als Deserteur
Private First Class Richard Boyd folgt dem Mädchen die Straße hinunter. Beide halten sich im Schatten auf, um nicht gesehen zu werden. Er hatte keine Ahnung davon, dass es hier draußen so schlimm geworden ist. In der Stadt wimmelt es sowohl von Gesunden als auch Infizierten, die in Gruppen im Dunkeln Jagd aufeinander machen.
Die junge Frau heißt Susan. Er schätzt sie auf 19 Jahre, also in seinem Alter; hübsches Gesicht, gute Figur: schlank und sportlich. Der Typus Girl von nebenan, der in New York wie fehl am Platz wirkt.
Nach zehn Monaten in einem muslimischen Land hat Boyd vergessen, wie viel Haut man im Westen zeigt, wenn es schwülwarm ist wie heute Abend. Sie trägt ein Hemd ohne Ärmel zu einer Jeans mit abgeschnittenen Beinen und schwitzt aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit. Er malt sich aus, wie Schweißtropfen zwischen ihren Brüsten hinabrinnen und spürt einen Sog der Erregung. Vielleicht bekommt er einen Kuss dafür, dass er sie begleitet, vielleicht auch mehr als das.
Susan verschwindet im Eingangsbereich eines Schmuckgeschäfts. Er geht hinterher.
»Was ist los?«, flüstert er in ihr Ohr.
Sie stehen nahe beieinander. Wieder spielt er mit dem Gedanken, sie zu küssen.
Mehrere Augenblicke vergehen, bevor sie antwortet: »Nichts. Sie sind fort.«
Sie tauchte kurz nach Mitternacht am Posten auf, als Sergeant Ruiz mit dem Lieutenant im Krankenhaus war, und bat um Hilfe. Williams fand, sie sehe aus wie ein Junkie und verlangte eine gewisse Gegenleistung für den Fall, dass er ihr etwas Feines aus der Apotheke der Klinik besorge. Dies begeisterte die anderen Jungs und sie rissen Witze, doch das Lachen verging ihnen, als sie Susans Geschichte hörten. Ihr Vater war krank und tollwütig geworden. Ihre Mutter sperrte sich in einem Schrank ein, nachdem er sie brutal verprügelt hatte, woraufhin er die Wohnung verwüstete. Susan versuchte, die Polizei zu erreichen, allerdings wies nur ein Anrufbeantworter darauf hin, dass alle Leitungen besetzt seien. Als sie dies erzählte, erschien Corporal Hicks und ließ sie wissen, man sei völlig außerstande, etwas für sie zu tun. Falls die Cops ihr nicht helfen könnten, sei sie auf sich allein gestellt. Mit einem Mal überschlugen sich die Jungs geradezu, um ihr unter die Arme zu greifen, obwohl Williams nölte, sie ziehe eine Nummer ab, und meinte: »Ihr Weißbrote habt euch echt blenden lassen.«
Mancher von ihnen wollte sich tatsächlich blenden lassen, denn sie fanden Susan ausgesprochen hübsch. Zu jenem Zeitpunkt beschloss Boyd, sich vom Acker zu machen. Eigenmächtige Abwesenheit! Er wartete ein paar Minuten, bevor er sich durch den Stacheldraht zwängte und sich ihr anschloss.
Seitdem sind die beiden nur quälend langsam vorangekommen, um das Apartmentgebäude an der Lower East Side zu erreichen, in dem sie wohnt.
Sein Plan: Die Mom des Mädchens retten, sich als Held hervortun und dann nach Idaho abhauen. Denn eigentlich sollte er dort sein – bei seiner Familie, jetzt gleich. Donna ist an Lyssa erkrankt, und seine Mutter braucht ihn. Das hat sie so in ihrem Brief geschrieben. Sie fürchtet, seine Schwester werde tollwütig und rufe dadurch den Sheriff auf den Plan. Der werde sie ganz sicher erschießen und ihre Leiche zum Verbrennen auf einen der großen Scheiterhaufen außerhalb der Stadt werfen. Die Tatsache, dass der Brief bereits vor einer Woche geschrieben wurde, ist für Boyd nicht von Belang.
Das einzige Problem bei der Durchführung seines Vorhabens besteht darin, dass er nicht einmal genau weiß, wo er sich gerade befindet, und noch weniger, wie er während einer grassierenden Pandemie in den Randbezirk von Boise gelangen soll. Der Flugverkehr ist eingestellt worden und die Straßen werden allem Anschein nach von gemeingefährlichen Irren bevölkert.
Wer über 30 Tage lang unerlaubt abwesend bleibt, gilt als Deserteur. Als solchen können sie ihn sogar erschießen, falls sie ihn schnappen. Nach allem, was er heute Abend erlebt hat, zweifelt er nicht daran, dass sie es tun würden. Die Zeiten sind hart und werden noch härter.
Gut möglich, dass er ins Glied zurückkehrt, nachdem er dem Girl aus der Klemme geholfen hat. Der Gedanke, hingerichtet zu werden, verdrängt zusehends alle anderen in seinem Kopf und gefällt ihm überhaupt nicht. Er hat sich das alles nicht gründlich überlegt, bevor er den Posten verließ … Sein Plan löst sich schon jetzt in Luft auf.
Susan verschwindet im nächsten Hauseingang und er läuft ihr nach.
»Was jetzt?«
Sie mahnt ihn zum Schweigen. Die beiden drängen sich aneinander.
Dann hört er es: Tollwütige heulen in der Dunkelheit.
Das matte Licht der flackernden Straßenlaternen erfasst zwei Teenagerinnen, die nun die Straße überqueren. Eine bleibt stehen und blickt genau auf die Stelle, an der sich Boyd mit Susan im Schatten versteckt. Zitternd gibt sie einen tiefen Kehllaut von sich und macht einen Buckel. Sie hält die Hände zu Fäusten verkrampft an den Seiten, und Schaum, der zwischen zusammengebissenen Zähnen hervortritt, tropft auf ihr T-Shirt.
Die andere – das lange Haar fällt ihr in einzelnen Strähnen vors Gesicht – humpelt weiter. Ein Bein zieht sie nach, es blutet und scheint gebrochen zu sein. Dann hält auch sie inne und beginnt mit Blick auf das Versteck von Boyd und Susan zu grollen.
Er legt mit seinem M4 an, da brummt das erste Mädchen lauter. Susan schlottert und atmet flach vor Panik.
»Knall sie ab, knall sie ab …«
Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Eine Woge blanken Entsetzens raubt ihm die Sinne. Das Herz trommelt heftig gegen seine Brust, und er glaubt zu spüren, wie sich seine Eingeweide verflüssigen. Er blinzelt und versucht, sich auf seine Ausbildung zurückzubesinnen, doch für so etwas ist er nie gewappnet