ins Bett, jeder Knochen tat ihr weh, sie hatte Schwielen an den Händen und Muskelkater in den Beinen – und trotz ihrer zunehmenden Erschöpfung konnte sie meistens nicht sofort einschlafen, weil sie mit ihrem Schicksal haderte und sich vornahm, am nächsten Tag ihre Sachen zu packen und nach Hause zu fahren.
Doch jeden Morgen, wenn der Wecker klingelte, hielt etwas sie davon ab, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Sie wusste selbst nicht, warum sie sich dann doch aus dem Bett quälte, eine Kleinigkeit aß und über den Schlosshof zu den Ställen lief, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. Vielleicht wollte sie einfach nicht scheitern? Nicht zugeben, dass sie es nicht geschafft, nicht durchgehalten hatte? Vielleicht wollte sie sich und ihren Eltern – und allen anderen, die ihr nichts zutrauten – beweisen, dass sie durchaus imstande war, ein körperlich hartes Praktikum durchzustehen?
Vielleicht lag es aber auch einzig und allein an den Pferden, diesen wunderschönen Geschöpfen mit den großen glänzenden Augen, dem seidigen Fell und der eleganten Haltung, in deren Gegenwart vieles von dem, was sie bedrückte, von ihr abfiel? Sobald sie im Stall war, fühlte sie sich wohl, so einfach war das. Und die Pferde schienen sich in ihrer Gesellschaft ebenfalls wohl zu fühlen, sie hatte jedenfalls noch nie Probleme gehabt, auch nicht mit den Tieren, die als schwierig galten. Vielleicht also hatte sie in dieser Hinsicht doch eine Begabung, aus der sich etwas machen ließe?
Sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie sich von Patrick jetzt nicht schon wieder antreiben lassen wollte, und deshalb hatte sie auf seine recht freundliche Aufforderung, sich zu beeilen, auch ziemlich patzig reagiert.
»Hör mal«, entgegnete er, nun deutlich hitziger im Ton, »du kannst hier nicht auf unsere Kosten die Prinzessin spielen. Wenn du so langsam machst, muss jemand anders deinen Teil mitmachen, das ist dir hoffentlich klar? Wir arbeiten hier alle hart, da lässt niemand einen anderen darunter leiden, dass er ein bisschen durchhängt. Wenn du müde bist, geh abends früher schlafen, den guten Rat gebe ich dir hiermit. Und jetzt gib Gas oder du wirst mächtig Ärger kriegen.«
Mit diesen Worten ging er. Sie sah ihm fassungslos nach. Wie der mit ihr redete, dieser …, dieser … Sie probierte in Gedanken mehrere Schimpfwörter aus, als er sich plötzlich umdrehte und sie dabei ertappte, dass sie untätig dastand und ihm hinterhersah. »Nicht gaffen, schaffen!«, schrie er zornig.
Sie erschrak so, dass sie seiner Aufforderung tatsächlich nachkam. Zu ihrem Erstaunen bemerkte sie, dass ihre Müdigkeit jetzt, da sie sich beeilte, nach und nach wich. Sie fühlte sich wach und leistungsfähig.
Die wollten sie ja nur alle kleinkriegen, aber es würde ihnen nicht gelingen!
*
»Schöner Hengst«, bemerkte ein junger Mann, als Baron Friedrich bei der Pferdeauktion den Zuschlag für Silberstern erhalten hatte.
»Ja, ich wollte ihn unbedingt haben – für meine Zucht. Ich bin übrigens Friedrich von Kant, wir wohnen auf Schloss Sternberg, meine Familie und ich.«
»Ich weiß«, erwiderte der junge Mann lächelnd und stellte sich nun ebenfalls vor: »Arndt von Claven, ich vertrete zurzeit Dr. Küppers. Meinen ersten Besuch auf Sternberg habe ich bereits hinter mir und bei der Gelegenheit Ihren Stallmeister kennengelernt.«
»Freut mich sehr, Herr Doktor!« Friedrich reichte dem sympathischen Arzt die Hand. »Dr. Küppers wird ja wohl für eine ganze Weile ausfallen, nicht wahr?«
»Sieht so aus, ja. Für ihn tut es mir natürlich leid, aber für mich ist das eine Riesenchance.«
»Und trotz der vielen Arbeit haben Sie Zeit, sich auf einer Pferdeauktion umzusehen?«
Arndt lachte. »Ich komme gerade von einem Noteinsatz zurück, Sie werden es nicht glauben. Sonst wäre ich bestimmt nicht hier, aber ich muss praktisch am Auktionsgelände vorbeifahren, um nach Hause zu kommen, da wäre es doch dumm gewesen, nicht wenigstens kurz anzuhalten, meinen Sie nicht?«
»Ich bin jedenfalls froh, dass Sie es getan und wir uns auf diese Weise kennengelernt haben«, erklärte der Baron. »Wenn Sie uns demnächst wieder einen Besuch abstatten, werden Sie dann auch Silberstern untersuchen dürfen.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein. Ich denke übrigens, Sie sollten ihn im Auge behalten, er scheint mir sehr nervös zu sein. Er hat jetzt, wie ich hörte, einige Male den Besitzer gewechselt, weil die Leute Pferde heutzutage offenbar vor allem als Kapitalanlage sehen – das hat ihm jedenfalls nicht gut getan. Er braucht Ruhe. Und ein zuhause, auch wenn das sentimental klingen mag. Er weiß nicht, wohin er gehört.«
Friedrich hatte dieser Rede eines noch sehr jungen Mannes mit wachsendem Erstaunen zugehört. Die Worte bewiesen ihm, dass Arndt von Claven den richtigen Beruf gewählt hatte: Er sah ein Tier und war sehr schnell im Stande, sich ein Bild von ihm zu machen. Das konnte beileibe nicht jeder. »Ja, ich habe die Nervosität auch wahrgenommen«, bestätigte er nun. »Wenn wir die Rückfahrt hinter uns haben, wird Silberstern so viel Ruhe haben, wie er benötigt. Außerdem hat er auf Sternberg viel Auslauf, auch das wird dazu beitragen, sein Befinden zu verbessern.«
»Ich wünsche Ihnen viel Glück mit ihm«, sagte Arndt zum Abschied. »Und jetzt will ich nachhause, Herr von Kant – mir geht es nämlich wie Ihrem Hengst: Ich sehne mich nach Ruhe.«
Sie lächelten beide, als sie sich zum Abschied die Hände schüttelten. Es war eine angenehme Begegnung gewesen, der sicherlich weitere folgen würden.
*
»Magst du sie?«, fragte Anna.
Christian und sie saßen im letzten Pferdestall, der nur noch als Abstellraum genutzt wurde, deshalb waren sie hier in der Regel unter sich und zogen sich immer dann hierher zurück, wenn sie ungestört miteinander reden wollten.
»Ich weiß nicht«, antwortete der kleine Fürst ein wenig nachdenklich. »Eigentlich ist Julietta nett, glaube ich, aber sie benimmt sich seltsam.«
»Sie schmatzt«, stellte Anna fest, »und sie ist nicht nett zu Herrn Hagedorn. Das nehme ich ihr am meisten übel. Und wie sie immer rumläuft! Sie ist schon einundzwanzig, aber wenn Mama nicht von ihr verlangte, dass sie sich umzieht, würde sie sich glatt in ihren dreckigen Klamotten zu uns an den Tisch setzen. Dabei stinken ihre Sachen wie verrückt, das muss sie doch eigentlich merken? Ich meine, natürlich stinken sie, wenn man Ställe ausmistet, das weiß jeder.«
»Es ist ihr wohl gleichgültig«, vermutete Christian. »Ich glaube, sie fühlt sich hier ziemlich allein.«
»Das müsste sie aber gar nicht, wenn sie sich anders benähme.« Aus Anna sprach die tiefe Enttäuschung einer Dreizehnjährigen, die sich vor Juliettas Besuch einen Ersatz für die nicht vorhandene ältere Schwester erhofft hatte und sich nun bitter enttäuscht sah. Die junge Frau hatte mit Anna und Christian bisher keine zehn Sätze gewechselt. Sie sah meistens mürrisch aus und wirkte in sich gekehrt. »Sie ist ein richtiger Trampel, Chris, da kannst du sagen, was du willst. Sie sieht wie ein Trampel aus, und sie benimmt sich auch so. Und sie riecht so.«
Er hätte ihr gern widersprochen, musste ihr im Stillen aber Recht geben. Es gab wirklich nicht allzu viel, was für Julietta sprach. Dennoch sagte er: »Ganz so schlimm ist es nicht.«
Doch Anna war nicht in der Stimmung für Kompromisse. »Doch!«, erklärte sie mit Nachdruck. »Es ist genauso schlimm, wie ich gesagt habe. Du brauchst sie überhaupt nicht zu verteidigen!«
Togo kam hereingefegt, blieb direkt vor ihnen stehen und bellte auffordernd. »Ja, ja, wir kommen schon, Togo«, sagte Christian, nachdem er dem Boxer den Hals gekrault hatte. »Du langweilst dich wohl ohne uns, was? Mal sehen, ob wir ein schönes Stöckchen für dich finden.«
Dieses Wort genügte, um Togo wieder nach draußen rasen zu lassen, wo er ein wildes Gebell anstimmte, bis Anna und Christian endlich erschienen und sich anschickten, ihn nach Herzenslust durch den Park zu jagen, indem sie ihm die geliebten Stöckchen warfen.
*
»Trampel« hatte Anna sie genannt. Julietta lehnte mit geschlossenen Augen an der Stallwand. Sie hatte unfreiwillig gelauscht, denn ihr war nicht klar gewesen, dass dieser verlassene Stall nicht nur ihr