Viola Maybach

Der kleine Fürst Staffel 5 – Adelsroman


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      War sie das, ein Trampel? Seltsam, früher hatten solche Fragen sie nicht interessiert, aber seit sie hier war, schien es plötzlich wichtiger zu sein, was andere Menschen über sie dachten. Und eins wusste sie plötzlich mit absoluter Gewissheit: Ein Trampel wollte sie nicht sein, und stinken wollte sie natürlich auch nicht.

      Sie war nicht besonders eitel – wozu auch? Heiraten würde sie ohnehin nie, und bisher hatte sie es eher lächerlich gefunden, wenn sie ihre Schwester Bettina beim Schminken überrascht hatte. Was für ein Aufwand, bloß um ein Bild zu erzeugen, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmte! Sie hatte sich immer viel auf ihre Ehrlichkeit zugute gehalten – und dazu gehörte für sie auch ein ungeschminktes Gesicht. So machte man niemandem etwas vor.

      Aber das, was sie beim Lauschen gehört hatte, verunsicherte sie nun doch und zwar so sehr, dass sie an sich halten musste, um nicht zu weinen. Immerhin hatte der kleine Fürst einen halbherzigen Versuch gemacht, seiner Cousine zu widersprechen, aber im Grunde war er wohl ihrer Meinung.

      Und wie sah es bei Tante Sofia und Onkel Fritz aus? Bei Konrad? Oder bei Herrn Hagedorn, von dem Anna gesagt hatte, dass sie, Julietta, ihn schlecht behandelte? Sie war sich keiner Schuld bewusst gewesen, bis sie Annas Worte gehört hatte. Nun fiel ihr ein, dass sie wirklich nicht besonders freundlich zu ihm gewesen war, weil sie keinen Anlass dazu gesehen hatte. Dabei war ihr und ihren Geschwistern von den Eltern vermittelt worden, dass Hochmut eine vollkommen inakzeptable Haltung war. War sie hochmütig?

      Ein hochmütiger Trampel, dachte sie und hätte über diese Absurdität beinahe gelacht, obwohl ihr die Augen voller Tränen standen.

      Als sie den Stall verließ, sah sie sich rasch nach allen Seiten um. Die beiden Jugendlichen und Togo hatten mittlerweile das Schloss erreicht. Rasch schlug sie einen großen Bogen und schaffte es, unbemerkt durch einen Hintereingang ins Gebäude zu schlüpfen. Auch ihre Suite erreichte sie ungesehen.

      Dort angekommen zog sie sich aus und stellte sich lange unter die Dusche. An diesem Abend würde sie niemandem einen Anlass bieten, sie einen Trampel zu nennen.

      *

      »Die erste Woche ist um, Caro«, stellte Adalbert von Barrentrop fest, »und Julietta ist noch immer auf Sternberg. Ich sage das nur, weil ich finde, es ist zumindest ein kleiner Erfolg.«

      »Aber?«, fragte sie besorgt. »Du hast doch mit Friedrich gesprochen, oder?«

      »Ja, das habe ich. Er war offen zu mir und hat zugegeben, dass es schwierig ist mit unserer Jüngsten.«

      »In welcher Hinsicht?«

      Adalberts Gesicht verzog sich zu einer komischen Grimasse. »Wie erwartet: in jeder Hinsicht, Caro. Sie eckt bei ihren Kolleginnen und Kollegen an, weil sie denkt, sie ist etwas Besonderes. Sie ist unpünktlich, arbeitet schleppend, wenn

      ihr die Arbeit nicht zusagt, und sie lässt sich nur ungern etwas sagen. Sie zeigt schlechte Manieren, besonders bei den Mahlzeiten, was für Sofia wohl eine ziemliche Herausforderung darstellt. Und sie kann sich nicht unterordnen, immer wieder vergreift sie sich dem Stallmeister gegenüber im Ton.«

      »Und?«, fragte Caroline angstvoll weiter.

      »Fritz meinte, sein sonst so strenger Stallmeister sei der Ansicht, unsere Tochter habe einen guten Kern – und deshalb hat er mehr Geduld als üblich. Aber viel darf sie sich wohl nicht mehr leisten.« Adalbert machte eine kurze Pause. »Sie hat ein gutes Gespür für Pferde, hat Fritz gesagt, und das ist ihr größtes Plus. Mit den Pferden scheint sie nichts falsch zu machen.«

      Caroline wagte es, vorsichtig aufzuatmen, aber ihre Besorgnis kehrte schnell zurück. »Zeigt sie Veränderungen in ihrem Verhalten? Hat Fritz sich dazu geäußert, Bert?«, fragte sie.

      »Es scheint nicht so zu sein. Sie ist wohl noch immer ganz die Julietta, die wir kennen.« Adalbert schloss seine Frau in die Arme. »Aber wenn selbst der strenge Stallmeister erkennt, dass sie Qualitäten besitzt, dann sollten wir die Hoffnung wohl noch nicht aufgeben, denke ich. Eines Tages wird der Edelstein zum Vorschein kommen, der sie in Wirklichkeit ist.«

      Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an ihn. Wenn er doch nur Recht behielte!

      *

      Julietta spürte, dass die Blicke der anderen forschend auf ihr ruhten, aber sie tat, als bemerkte sie sie nicht. Sie hatte sich die Haare gekämmt, einen Rock und eine Bluse angezogen, und sie saß aufrecht am Tisch, ohne den linken Unterarm in seiner ganzen Länge neben ihrem Teller zu lagern. Zwar trug sie selbstverständlich noch immer kein Make-up, aber sie hatte sich selbst ziemlich fremd gefunden nach einem eingehenden Blick in den Spiegel. Dass eine veränderte Frisur und andere Kleidung eine solche Wirkung erzielen konnten, hatte sie aufrichtig verblüfft.

      Einerseits freute sie die stumme Verwunderung der anderen, andererseits verstärkte es ihre Verunsicherung, und so war sie froh, als Friedrich begann, von der Auktion zu erzählen, auf der er den Hengst Silberstern erworben hatte. »Ein tolles Pferd«, freute er sich. »Übrigens habe ich bei der Gelegenheit den Vertreter von Dr. Küppers kennengelernt. Er hat mich darauf hingewiesen, dass Silberstern ziemlich nervös ist, und er vermutete, dass das am häufigen Besitzerwechsel in der letzten Zeit liegen könnte.

      Netter Mann, der junge Herr Doktor.«

      »Es stimmt, dass Silberstern nervös ist«, sagte Julietta und wünschte im nächsten Moment, sie hätte den Mund gehalten. Sie beteiligte sich doch sonst auch kaum an den Unterhaltungen bei Tisch – warum also machte sie ausgerechnet heute, da Anna sie »Trampel« genannt hatte, eine Ausnahme?

      »Du hast das also auch festgestellt, Julietta?«, fragte Friedrich.

      »Ja, er hatte offenbar richtig Angst zuerst, aber nach einer Weile ist er zutraulicher geworden. Wir müssen Geduld mit ihm haben«, erklärte Julietta.

      »Du scheinst ja trotzdem gut mit ihm zurecht gekommen zu sein«, stellte der Baron fest.

      Und wieder rutschte Julietta etwas heraus, was sie eigentlich gar nicht hatte sagen wollen. »Wir sind uns ähnlich, Onkel Fritz.«

      Nach dieser überraschenden Äußerung herrschte tiefes Schweigen am Tisch, während sich lauter aufmerksame Blicke auf Julietta richteten. Sie spürte, dass sie rot wurde und suchte verzweifelt nach einem Satz, den sie sagen könnte, um die Stille zu vertreiben, doch dieses Mal war es der kleine Fürst, der sie rettete. Mit ruhiger Stimme fragte er seinen Onkel: »Wäre es dann nicht gut, Onkel Fritz, dass sich vor allem Julietta um Silberstern kümmert? Wenn er Vertrauen zu ihr hat, gewöhnt er sich bestimmt schneller ein.«

      Der Baron nickte. »Wäre dir das recht, Julietta? Dann rede ich morgen mit Herrn Wenger und frage ihn, was er von diesem Vorschlag hält.«

      Die Röte auf Juliettas Gesicht vertiefte sich, aber ihre Augen leuchteten. Sie bemühte sich zwar, ihrer Freude nicht allzu deutlich Ausdruck zu verleihen, doch das gelang ihr nicht, denn der Jubel in ihrer Stimme war unüberhörbar: »Natürlich wäre mir das recht, Onkel Fritz!«

      Danach wurde das Thema gewechselt, aber es gab niemanden am Tisch, dem nicht klar gewesen wäre, dass sich bei diesem Abendessen etwas Bemerkenswertes ereignet hatte: Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft war Julietta beinahe normal gewesen.

      *

      »Sie lächeln ja so, Herr Hagedorn«, stellte Marie-Luise Falkner, die begabte junge Köchin auf Sternberg, fest. »Was ist denn geschehen?«

      »Ein Wunder«, erwiderte der alte Butler. »Anders kann man es nicht nennen.«

      »Hat es etwas mit unserem Gast zu tun?«, fragte Marie-Luise mit leiser Stimme, damit die Küchenhilfen sie nicht hören konnten.

      Er nickte. »Die junge Dame hat sich heute zum ersten Mal von ihrer sympathischen Seite gezeigt, Marie. Es besteht also Anlass zur Hoffnung.«

      »Sie haben ja die ganze Zeit gesagt, dass sie nicht so ist, wie wir alle denken. Sie hatten also offenbar mal wieder Recht, Herr Hagedorn.«

      Er lächelte verschmitzt. »Ich würde es mir wünschen, Marie. Die Herrschaften waren übrigens wieder