Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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Frei­brief für die Un­ver­schämt­heit. Sie sind ei­ner der Un­sern! Mes­sieurs, trin­ken wir auf die Macht des Gol­des. Mon­sieur de Va­len­tin ist sechs­fa­cher Mil­lio­när und da­mit eine Macht ge­wor­den. Er ist Kö­nig, er kann al­les, er steht über al­lem, wie alle Rei­chen. Für ihn ist von jetzt ab der Satz »alle Fran­zo­sen sind vor dem Ge­setz gleich!« eine an der Spit­ze der Char­ta ste­hen­de Lüge. Nicht er wird den Ge­set­zen, son­dern die Ge­set­ze wer­den ihm ge­hor­chen. Für Mil­lio­näre gibt es kein Scha­fott und kei­ne Hen­ker!«

      »Rich­tig«, er­wi­der­te Ra­pha­el, »sie sind ihre ei­ge­nen Hen­ker!«

      »Noch ein Vor­ur­teil!« rief der Ban­kier.

      »Trin­ken wir!« rief Ra­pha­el und steck­te den Ta­lis­man in die Ta­sche.

      »Was machst du da?« fra­ge Émi­le und hielt sei­ne Hand fest. »Mes­sieurs!« da­mit wand­te er sich an die Ge­sell­schaft, die über das Be­neh­men Ra­phaels recht ver­blüfft war, »Sie müs­sen wis­sen, daß un­ser Freund, was sage ich, M­on­sieur le Mar­quis de Va­len­tin, ein Ge­heim­nis be­sitzt, um reich zu wer­den. Sei­ne Wün­sche er­fül­len sich in dem Au­gen­blick, wo er sie hegt. Wenn er nicht als ge­mein und herz­los gel­ten will, wird er uns alle reich ma­chen.«

      »Ach, lie­ber klei­ner Ra­pha­el«, rief Eu­phra­sie, »ich möch­te ein Per­len­kol­lier.«

      »Wenn er dank­bar ist, schenkt er mir zwei Equi­pa­gen mit ed­len, flin­ken Pfer­den da­vor«, bet­tel­te Aqui­li­na.

      »Wün­schen Sie für mich 100 000 Li­vres Ren­te!«

      »Mir Kasch­mir!«

      »Be­zah­len Sie mei­ne Schul­den!«

      »Schi­cke mei­nem Oheim, dem zä­hen Kerl, einen Schlag!«

      »Ra­pha­el, 10 000 Li­vres Ren­te, und ich bin dir ewig dank­bar!«

      »Das sind viel­leicht Schen­kun­gen!« rief der No­tar. »Mich müß­te er von der Gicht hei­len.«

      »Las­sen Sie den Ren­ten­kurs sin­ken!« rief der Ban­kier.

      Alle die­se Rufe schos­sen in die Höhe wie die Feu­ergar­ben am Schluß ei­nes Feu­er­werks. Die­se hit­zi­gen Wün­sche wa­ren viel­leicht mehr ernst als scherz­haft ge­meint.

      »Lie­ber Freund«, sag­te Émi­le mit erns­ter Mie­ne, »ich wer­de mich mit 200 000 Li­vres Ren­te be­gnü­gen; sei so nett und be­sor­ge das!«

      »Émi­le«, er­wi­der­te Ra­pha­el, »weißt du nicht, was mich das kos­tet?«

      »Eine schö­ne Ent­schul­di­gung!« rief der Dich­ter. »Müs­sen wir uns nicht für un­se­re Freun­de op­fern?«

      »Ich hät­te fast Lust, euch al­len den Tod zu wün­schen«, sag­te Va­len­tin und warf einen tie­fen, düs­te­ren Blick auf die An­we­sen­den.

      »Ster­ben­de sind gräß­lich grau­sam«, ver­setz­te Émi­le la­chend.

      »Du bist nun reich«, füg­te er ernst­haft hin­zu, »kei­ne zwei Mo­na­te geb ich dir, dann bist du ein ganz schmut­zi­ger Ego­ist. Dumm bist du schon, ver­stehst kei­nen Spaß mehr. Jetzt fehlt nur noch, daß du an dein Cha­grin­le­der glaubst.«

      Ra­pha­el, der die Spott­re­den die­ser Ge­sell­schaft fürch­te­te, blieb still, trank über die Ma­ßen und be­rausch­te sich, um für einen Au­gen­blick die un­heim­li­che Macht, die er be­saß, zu ver­ges­sen.

      1 Véry: das ›Café Véry‹, ein Pa­ri­ser Re­stau­rant im Palais-Roy­al, das von 1805-1845 der Fa­mi­lie Véry ge­hör­te <<<

      2 Au­ver­gne: ehe­ma­li­ge Pro­vinz; waldar­mes Hoch­land im Sü­den Frank­reichs <<<

      3 Re­stau­ra­ti­on: Pe­ri­ode in der fran­zö­si­schen Ge­schich­te, in der die Bour­bo­nen­herr­schaft er­neu­ert wur­de (1814, 1815-1830) <<<

      4 Villèle, Jean-Bap­tis­te, Com­te de (1773-1854): Füh­rer der Ul­tra-Roya­lis­ten un­ter der Re­stau­ra­ti­on. Er setz­te die re­ak­tio­nären Ge­set­ze zur po­li­ti­schen, mi­li­tä­ri­schen und so­zia­len Re­or­ga­ni­sa­ti­on durch. <<<

      5 Mar­ce­li­ne: Mut­ter des Fi­ga­ro aus »Die Hoch­zeit des Fi­ga­ro« (1784) von Beaumar­chais (1732-1799) <<<

      6 An­dré de Ché­nier (1762-1794): fran­zö­si­scher Dich­ter, der die an­ti­ke grie­chi­sche Ly­rik zum Vor­bild nahm; wand­te sich ge­gen den Ter­ror der Ja­ko­bi­ner, 1794 hin­ge­rich­tet <<<

      7 Blei­kam­mern von Ve­ne­dig: das seit 1561 un­ter dem mit Blei­plat­ten ge­deck­ten Dach des Do­gen­pa­las­tes ein­ge­rich­te­te, be­rüch­tig­te Ge­fäng­nis <<<

      8 ›Theo­rie des Wil­lens‹: Vgl. Balzacs »Louis Lam­bert« <<<

      9 Mes­mer, Franz (1734-1815): deut­scher Arzt, be­grün­de­te die Leh­re vom tie­ri­schen Ma­gne­tis­mus (Mes­me­ris­mus), wo­nach elek­tro­ma­gne­ti­sche Kräf­te vom le­ben­di­gen Or­ga­nis­mus aus­ge­hen sol­len <<<

      10 La­va­ter, Jo­hann Kas­par (1741-1801): Schwei­zer Schrift­stel­ler und pro­tes­tan­ti­scher Geist­li­cher; Be­grün­der der Phy­sio­gno­mik (»Phy­sio­gno­mi­sche Frag­men­te«), in der eine Men­sche­ner­kennt­nis aus den Ge­sichts­zü­gen oder Kör­per­for­men ge­won­nen wird <<<

      11 Gall, Franz Jo­seph (1758-1828): deut­scher Arzt und Be­grün­der der Schä­del­leh­re, wo­nach be­son­de­re mensch­li­che An­la­gen und Fä­hig­kei­ten durch Schä­del­wöl­bun­gen kennt­lich sei­en. Wäh­rend Gall in Deutsch­land mit sei­ner Leh­re nur Ge­läch­ter ern­te­te, hat­te er seit 1807 in den Pa­ri­ser Sa­lons großen ge­sell­schaft­li­chen Er­folg <<<

      12 Dio­ge­nes von Si­no­pe (412-323 v. Chr.): grie­chi­scher Phi­lo­soph, Zy­ni­ker; be­kun­de­te sei­ne Ver­ach­tung ge­gen­über Reich­tum und so­zia­len Kon­ven­tio­nen da­durch, daß er in ei­ner Ton­ne leb­te <<<

      13 Ari­el: Luft­geist aus Sha­ke­s­pea­res Dra­ma ›Der Stur­m‹ (1611) <<<

      14 Syl­phe: grch., Luft­geist <<<

      15 Ü­ber­gang über die Be­re­si­na: Auf ih­rem Rück­zug von Mos­kau über­quer­ten die Fran­zo­sen die Be­re­si­na (26.-28. No­vem­ber 1812), wo­bei