Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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nicht er­hält. Wahr­haft der Blick des Ero­be­rers und Ver­damm­ten! Ja, mehr noch, der Blick, den Ra­pha­el ei­ni­ge Mo­na­te zu­vor auf die Sei­ne oder auf das letz­te Gold­stück ge­wor­fen hat­te, das er im Spiel setz­te. Er un­ter­warf sei­nen Wil­len, sei­nen In­tel­lekt dem plum­pen ge­sun­den Men­schen­ver­stand ei­nes al­ten Bau­ern, den 50 Jah­re Dienst­stel­lung nur not­dürf­tig zi­vi­li­siert hat­ten. Fast froh, eine Art Au­to­mat zu wer­den, ent­sag­te er dem Le­ben, um zu le­ben, und ver­sag­te sei­ner See­le alle Poe­sie des Wün­schens. Um der grau­sa­men Macht, de­ren Her­aus­for­de­rung er an­ge­nom­men hat­te, bes­ser ent­ge­gen­zu­tre­ten, war er nach Art des Ori­ge­nes6 keusch ge­wor­den, in­dem er sei­ne Phan­ta­sie ent­mann­te. An dem Tag, nach­dem er, durch ein Te­sta­ment schlag­ar­tig reich ge­wor­den, ge­se­hen hat­te, wie das Cha­grin­le­der klei­ner wur­de, hat­te er sei­nen No­tar auf­ge­sucht. Dort hat­te ein da­mals be­lieb­ter Arzt beim Des­sert al­len Erns­tes er­zählt, wie ein Schwei­zer sich von der Schwind­sucht ge­heilt hat­te. Die­ser Mann hat­te zehn Jah­re lang kein Wort ge­spro­chen und sich ge­zwun­gen, nur sechs­mal in der Mi­nu­te in der di­cken Luft ei­nes Kuh­stal­les zu at­men, au­ßer­dem hat­te er nur ganz leich­te Spei­sen zu sich ge­nom­men. »So wer­de ich es auch ma­chen!« hat­te sich Ra­pha­el ge­sagt. Er woll­te um je­den Preis le­ben. Von Lu­xus um­ge­ben, führ­te er das Le­ben ei­ner Ma­schi­ne. Als der alte Pro­fes­sor die­sen jun­gen Leich­nam an­sah, er­beb­te er; al­les schi­en ihm an die­sem schmäch­ti­gen und ge­brech­li­chen Kör­per künst­lich zu sein. In die­sem Mar­quis mit dem bren­nen­den Blick, der ge­dan­ken­schwe­ren Stirn konn­te er nicht mehr den Schü­ler mit dem fri­schen und ro­si­gen Ge­sicht, den ju­gend­li­chen Glie­dern er­ken­nen, wie er in sei­ner Erin­ne­rung leb­te. Wenn der wa­cke­re Ver­fech­ter klas­si­scher Idea­le, der fein­sin­ni­ge Kri­ti­ker und Be­wah­rer des gu­ten Ge­schmacks Lord By­ron ge­le­sen hät­te, hät­te er ge­glaubt, einen Man­fred vor sich zu se­hen, wo er einen Chil­de Ha­rold7 er­war­tet hat­te.

      »Gu­ten Tag, Va­ter Por­ri­quet«, sag­te Ra­pha­el zu sei­nem Leh­rer und drück­te die ei­si­gen Fin­ger des al­ten Man­nes mit sei­ner hei­ßen, feuch­ten Hand. »Wie geht es Ih­nen?«

      »Mir geht es schon gut«, er­wi­der­te der Greis, von der Berüh­rung mit die­ser fie­bern­den Hand er­schreckt. »Und Ih­nen?«

      »Oh! Ich hof­fe, mich bei gu­ter Ge­sund­heit zu er­hal­ten.«

      »Sie ar­bei­ten ohne Zwei­fel an ei­nem schö­nen Werk?«

      »Mein Werk ist ein rein phy­sio­lo­gi­sches Buch.«

      Ra­pha­el er­in­ner­te sich zu spät der wort­rei­chen Ele­ganz und der be­red­ten Um­schrei­bun­gen, an die ein lang­jäh­ri­ges Pro­fes­so­ren­da­sein sei­nen al­ten Leh­rer ge­wöhnt hat­te. Er be­reu­te jetzt fast, ihn emp­fan­gen zu ha­ben; aber in dem Au­gen­blick, als er ge­neigt war, den Al­ten lie­ber wie­der drau­ßen zu se­hen, un­ter­drück­te er has­tig die­sen ge­hei­men Wunsch und warf einen ver­stoh­le­nen Blick auf das Cha­grin­le­der, das vor ihm, auf einen wei­ßen Stoff ge­spannt, hing, auf dem sei­ne pro­phe­ti­schen Kon­tu­ren sorg­fäl­tig mit ei­ner ro­ten Li­nie nach­ge­zo­gen wa­ren, die das Le­der ge­nau ab­schlos­sen. Seit der ver­häng­nis­vol­len Or­gie un­ter­drück­te Ra­pha­el den lei­ses­ten An­flug ei­nes Be­geh­rens und leb­te in ei­ner Wei­se, die dem schreck­li­chen Ta­lis­man nicht das ge­ring­fü­gigs­te Zu­cken ver­ur­sa­chen konn­te. Das Cha­grin­le­der war wie ein Ti­ger, mit dem er le­ben muß­te, ohne sei­ne blut­dürs­ti­gen In­stink­te zu we­cken. Er hör­te also die weit­läu­fi­gen Er­klä­run­gen des al­ten Pro­fes­sors ge­dul­dig an. Va­ter Por­ri­quet brauch­te eine Stun­de, um ihm von den Ver­fol­gun­gen zu er­zäh­len, de­ren Ge­gen­stand er seit der Ju­li­re­vo­lu­ti­on ge­wor­den war. Der bie­de­re Bür­ger hat­te, vom pa­trio­ti­schen Ver­lan­gen nach ei­ner star­ken Re­gie­rung be­seelt, ge­äu­ßert, man möge die Krä­mer in ih­ren Lä­den, die Staats­män­ner in der Lei­tung der öf­fent­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten, die Ad­vo­ka­ten im Jus­tiz­pa­last und die Pairs von Frank­reich im Lu­xem­bourg las­sen; aber ei­ner der po­pu­lä­ren Mi­nis­ter des Bür­ger­kö­nigs hat­te ihn des Kar­lis­mus be­schul­digt und ihn von sei­nem Ka­the­der ver­bannt. Der alte Mann war ohne Stel­lung, ohne Ein­künf­te, ohne Brot. Da er für einen ar­men Nef­fen zu sor­gen hat­te, für den er im Se­mi­nar von Saint-Sul­pi­ce die Pen­si­on be­zahl­te, kam er, we­ni­ger für sich selbst als für sei­nen Ad­op­tivsohn, sei­nen ehe­ma­li­gen Schü­ler zu bit­ten, er möch­te sich bei dem neu­en Mi­nis­ter für ihn ver­wen­den. Es war ihm nicht ein­mal um die Wie­der­ein­set­zung in sein frü­he­res Lehr­amt zu tun, son­dern nur um eine Rek­tor­stel­le an ir­gend­ei­nem Pro­vinz­gym­na­si­um. Ra­pha­el war von ei­ner un­über­wind­li­chen Schlaf­sucht be­fal­len, als die ein­tö­ni­ge Stim­me des red­li­chen Al­ten schließ­lich auf­hör­te, in sei­nen Ohren zu tö­nen. Aus Höf­lich­keit hat­te er dem Greis bei des­sen lang­sa­men und um­ständ­li­chen Dar­le­gun­gen in die farb­lo­sen und fast star­ren Au­gen ge­blickt, und eine un­er­klär­li­che Träg­heit war über ihn ge­kom­men und hat­te ihn ma­gne­ti­siert und fast be­täubt.

      »Nun ja, gu­ter Va­ter Por­ri­quet«, er­wi­der­te er, ohne recht zu wis­sen, auf wel­che Fra­ge er ant­wor­te­te, »da kann ich nichts tun, gar nichts. Ich wün­sche leb­haft, es möch­te Ih­nen ge­lin­gen …«

      Mit ei­nem­mal bäum­te sich Ra­pha­el, der gar nicht dar­auf ach­te­te, wel­che Wir­kung die­se ba­na­len, egois­ti­schen und leicht­fer­ti­gen Wor­te auf der gel­ben, runz­li­gen Stirn des Al­ten her­vor­brach­ten, hef­tig auf wie ein auf­ge­scheuch­tes jun­ges Wild. Er be­merk­te eine dün­ne wei­ße Li­nie zwi­schen dem Rand des schwar­zen Le­ders und der ro­ten Kon­tur; er stieß einen so furcht­ba­ren Schrei aus, daß der arme Pro­fes­sor ent­setzt zu­sam­men­fuhr.

      »Fort, al­ter Blö­di­an!« rief er, »Sie wer­den zum Rek­tor er­nannt wer­den! Konn­ten Sie nicht eine Lei­b­ren­te von 1000 Ta­lern er­bit­ten, statt ei­nes der­art mör­de­ri­schen Wun­sches! Dann hät­te Ihr Be­such mich nichts ge­kos­tet. Es gibt 100 000 Stel­len in Frank­reich, und ich habe nur ein Le­ben! Ein Men­schen­le­ben ist mehr wert als alle Stel­len der Welt … Jo­na­thas!«

      Jo­na­thas er­schi­en.