Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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zu se­hen. Wir kön­nen sie so­gar leug­nen, wie wir Gott leug­nen. Wo ist sie? Wo ist sie nicht? Wo be­ginnt sie? Wo ist ihr Ur­sprung? Wo ist ihr Ende? Sie um­gibt uns, drängt uns und ent­weicht uns. Sie ist klar wie eine Tat­sa­che, dun­kel wie eine Abstrak­ti­on, ist Ur­sa­che und Wir­kung in ei­nem. Sie braucht wie wir den Raum, und was ist der Raum? Die Be­we­gung al­lein er­klärt ihn uns; ohne die Be­we­gung ist er nichts mehr als ein lee­res Wort ohne Sinn. Die Be­we­gung ist wie der lee­re Raum, wie die Schöp­fung, wie das Unend­li­che ein un­lös­ba­res Pro­blem, sie ver­wirrt das mensch­li­che Den­ken, und al­les, was der Mensch zu be­grei­fen ver­mag, ist, daß er sie nie­mals be­grei­fen wird. Zwi­schen je­dem der Punk­te, die die­se Ku­gel nach­ein­an­der im Raum ein­nimmt, klafft für die mensch­li­che Ver­nunft ein Ab­grund, der Ab­grund, in den Pas­cal ge­stürzt ist. Um nun auf den un­be­kann­ten Stoff, den Sie ei­ner un­be­kann­ten Kraft un­ter­wer­fen wol­len, ein­zu­wir­ken, müs­sen wir zu­erst die­sen Stoff un­ter­su­chen; nach sei­ner Na­tur wird er ent­we­der un­ter ei­nem Stoß zer­bre­chen oder wird ihm wi­der­ste­hen; wenn er in Stücke bricht und es nicht in Ih­rer Ab­sicht liegt, ihn zu tei­len, so kön­nen wir das ge­setz­te Ziel nicht er­rei­chen. Wol­len Sie ihn kom­pri­mie­ren, so muß auf alle Tei­le des Stof­fes eine glei­che Be­we­gung der­art über­tra­gen wer­den, daß der Raum zwi­schen den Tei­len gleich­mä­ßig ver­min­dert wird. Wol­len Sie ihn aus­deh­nen, so müs­sen wir ver­su­chen, auf je­des Mo­le­kül eine glei­che ex­zen­tri­sche Kraft aus­zuü­ben; denn ohne ge­naue An­wen­dung die­ses Ge­set­zes wür­den wir den Zu­sam­men­hang des Stof­fes ver­nich­ten. Sie müs­sen be­den­ken, die Be­we­gung kennt un­end­li­che Mo­da­li­tä­ten, zahl­lo­se Kom­bi­na­tio­nen. Zu wel­cher Wir­kung wol­len Sie sich ent­schlie­ßen?«

      »Mon­sieur«, ver­setz­te Ra­pha­el un­ge­dul­dig, »ich wün­sche ir­gend­ei­nen Druck, der stark ge­nug ist, um die­ses Le­der be­lie­big zu deh­nen …«

      »Da die Sub­stanz nicht be­lie­big groß, son­dern be­grenzt ist«, er­wi­der­te der Ma­the­ma­ti­ker, »kann sie nicht be­lie­big oder un­be­grenzt ge­dehnt wer­den; der Druck wird mit Not­wen­dig­keit den Um­fang auf Kos­ten der Di­cke ver­grö­ßern; die Sub­stanz wird dün­ner wer­den, bis es an Ma­te­rie zu feh­len be­ginnt …«

      »Wenn Sie die­ses Re­sul­tat er­rei­chen«, rief Ra­pha­el, »so ha­ben Sie Mil­lio­nen ver­dient!«

      »Ich wür­de Ih­nen Ihr Geld steh­len«, er­wi­der­te der Pro­fes­sor mit dem Phleg­ma ei­nes Hol­län­ders. »Ich will Ih­nen mit zwei Wor­ten eine Ma­schi­ne be­schrei­ben, un­ter der so­gar Gott sel­ber wie eine Flie­ge zer­quetscht wür­de. Sie ist im­stan­de, einen Men­schen samt Stie­feln, Spo­ren, Kra­wat­te, Hut, Geld, Schmuck, kurz, mit al­lem in ein Blatt Lösch­pa­pier zu ver­wan­deln …«

      »Was für eine furcht­ba­re Ma­schi­ne!«

      »An­statt ihre Kin­der ins Was­ser zu wer­fen, soll­ten die Chi­ne­sen sie sich lie­ber auf die­se Wei­se nutz­bar ma­chen«, fuhr der Ge­lehr­te fort, ohne dar­an zu den­ken, daß ein Mensch sei­nen Nach­kom­men eine ge­wis­se Ach­tung zol­len soll­te.

      Plan­chet­te war ganz von sei­ner Idee er­füllt, nahm einen lee­ren Blu­men­topf, der ein Loch im Bo­den hat­te, und stell­te ihn auf die Schei­be der Son­nen­uhr; dann hol­te er aus ei­nem Win­kel des Gar­tens et­was Ton. Ra­pha­el stand ge­spannt da wie ein Kind, dem sei­ne Amme ein Mär­chen er­zählt. Plan­chet­te leg­te sei­nen Ton auf die Schei­be, zog dann ein Gar­ten­mes­ser aus der Ta­sche, schnitt zwei Ho­lun­derzwei­ge ab und be­gann, das Mark her­aus­zu­drücken, da­bei pfiff er vor sich hin, als ob Ra­pha­el gar nicht da wäre.

      »Da ha­ben wir die ein­zel­nen Be­stand­tei­le der Ma­schi­ne«, sag­te er.

      Mit Hil­fe ei­nes aus dem Ton ge­form­ten Knies be­fes­tig­te er eine der Holz­röh­ren am Bo­den des Top­fes, so daß die Öff­nung des Ho­lun­ders mit dem Loch des Top­fes ver­bun­den war. Es sah wie eine un­för­mi­ge Pfei­fe aus. Auf der Schei­be brei­te­te er eine Schicht des Tons aus, daß die Form ei­ner Schau­fel ent­stand, setz­te den Blu­men­topf auf den brei­tes­ten Teil und drück­te den Ho­lun­derzweig auf dem Teil, der den Griff vor­stell­te, fest. Schließ­lich kleb­te er et­was Ton um das äu­ße­re Ende des Ho­lun­der­rohrs, steck­te den zwei­ten hoh­len Zweig auf­recht hin­ein, form­te den Ton zu ei­nem zwei­ten Knie­stück, das ihn mit dem ho­ri­zon­ta­len Zweig ver­band, so daß die Luft oder eine be­lie­bi­ge Flüs­sig­keit in die­ser im­pro­vi­sier­ten Ma­schi­ne von der Mün­dung des ver­ti­ka­len Roh­res durch den Ver­bin­dungs­ka­nal bis zu dem lee­ren Blu­men­topf flie­ßen konn­te.

      »Die­ser Ap­pa­rat, Mon­sieur«, sag­te er nun zu Ra­pha­el mit dem Ernst ei­nes Aka­de­mi­kers, der sei­ne An­tritts­vor­le­sung hält, »ist eine der wun­der­bars­ten Er­fin­dun­gen des großen Pas­cal.«

      »Ich ver­ste­he nicht.«

      Der Ge­lehr­te lä­chel­te. Er nahm von ei­nem Obst­baum ein Fläsch­chen, in der sein Apo­the­ker ihm eine Flüs­sig­keit zum Fan­gen der Amei­sen ge­schickt hat­te; er schlug den Bo­den ab, so daß ein Trich­ter ent­stand, hielt ihn sorg­fäl­tig auf die Öff­nung des hoh­len Zwei­ges, den er ver­ti­kal ge­gen­über dem großen Re­ser­voir, das der Blu­men­topf bil­de­te, in den Ton ge­steckt hat­te; dann goß er aus ei­ner Gieß­kan­ne so viel Was­ser in den Trich­ter, daß es in dem großen Topf und in dem klei­nen kreis­run­den Mund­stück des Ho­lun­derzwei­ges gleich hoch stand. Ra­pha­el dach­te an sein Cha­grin­le­der.

      »Das Was­ser«, do­zier­te der Mecha­ni­ker, »gilt heu­te noch als ein Kör­per, der nicht kom­pri­miert wer­den kann; be­ach­ten Sie die­ses fun­da­men­ta­le Prin­zip; es kann al­ler­dings kom­pri­miert wer­den, aber nur so ge­ring, daß wir sei­ne Kon­trak­ti­ons­fä­hig­keit gleich Null set­zen dür­fen. Se­hen Sie die Ober­flä­che des Was­sers, das in den Blu­men­topf ge­langt ist?«

      »Ja, Mon­sieur«.

      »Nun neh­men Sie an, die­se Ober­flä­che wäre tau­send­mal grö­ßer als das Mund­stück des Ho­lun­der­rohrs, durch das ich die Flüs­sig­keit ein­ge­gos­sen habe. Se­hen Sie, ich neh­me den Trich­ter weg.«

      »Ganz recht.«

      »Wenn ich nun ir­gend­wie das Vo­lu­men die­ser Mas­se ver­grö­ße­re, in­dem ich durch das Mund­stück des klei­nen Rohrs noch Was­ser ein­füh­re, so wird die Flüs­sig­keit dar­in hin­un­ter­ge­trie­ben und in dem Re­ser­voir, das der Blu­men­topf bil­det, stei­gen, bis die Flüs­sig­keit in bei­den gleich hoch steht …«

      »Das ist ein­leuch­tend!« rief Ra­pha­el.

      »Aber der Un­ter­schied ist der«, fuhr der Ge­lehr­te fort, »daß, wenn die dün­ne Was­ser­säu­le, die in das klei­ne Ver­ti­kal­rohr ein­ge­führt wird, dort eine Kraft dar­stellt, die bei­spiels­wei­se etwa dem Ge­wicht ei­nes Pfun­des ent­spricht, daß sich dann in dem Blu­men­topf, da die Leis­tung des Was­sers sich ge­treu auf die flüs­si­ge Mas­se über­trägt und auf alle Punk­te der Was­sero­ber­flä­che im Blu­men­topf ein­wirkt, tau­send Was­ser­säu­len be­fin­den, die alle die Ten­denz ha­ben, zu stei­gen, als wä­ren sie von ei­ner Kraft ge­trie­ben, die der­je­ni­gen gleich ist, wel­che die Flüs­sig­keit in dem ver­ti­ka­len Ho­lun­derzweig her­ab­treibt, und also mit Not­wen­dig­keit hier« – er deu­te­te auf die Öff­nung des Blu­men­top­fes – »eine Leis­tung her­vor­brin­gen, die tau­send­mal be­trächt­li­cher