Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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Weg fort. Als der Schmerz des Obers­ten sich be­sänf­tigt hat­te, emp­fand der Rat sei­ne Mü­dig­keit wie­der; und mit dem In­stinkt oder viel­mehr mit dem Wil­len ei­nes er­schöpf­ten Man­nes durch­forsch­te sein Auge alle Tie­fen des Wal­des; er prüf­te die Wip­fel der Bäu­me, stu­dier­te die Wege, in der Hoff­nung, ir­gend­ei­ne Her­ber­ge zu fin­den, wo er um Gast­freund­schaft bit­ten konn­te. An ei­nem Kreuz­weg an­ge­langt, glaub­te er einen leich­ten Rauch zu ent­de­cken, der zwi­schen den Bäu­men auf­stieg. Er blieb ste­hen, sah auf­merk­sam hin und er­kann­te in­mit­ten ei­ner rie­si­gen Baum­grup­pe die grü­nen dunklen Zwei­ge et­li­cher Fich­ten. »Ein Haus! Ein Haus!« rief er mit dem­sel­ben Ver­gnü­gen, mit dem ein Schif­fer ge­ru­fen hät­te: » Land, Land!«

      Dann eil­te er schnell durch eine dich­te Baum­grup­pe, und der Oberst, der in eine tie­fe Träu­me­rei ver­sun­ken war, folg­te ihm me­cha­nisch.

      »Ich will mich lie­ber hier mit ei­ner Ome­let­te, Haus­brot und ei­nem Stuhl be­gnü­gen, als nach Cassan wei­ter­ge­hen, um dort Di­wans, Trüf­feln und Bor­deaux­wein zu fin­den.«

      Das war der be­geis­ter­te Aus­ruf des Ra­tes beim An­blick ei­ner Mau­er, de­ren weiß­li­che Far­be sich weit­hin von der brau­nen Mas­se der knor­ri­gen Stäm­me des Wal­des ab­hob.

      »Ei, ei! Das sieht mir aus wie ir­gend­ei­ne alte Prio­rei«, rief der Mar­quis d’Al­bon von neu­em, als er vor ei­nem al­ten schwar­zen Git­ter an­lang­te, wo er in­mit­ten ei­nes ziem­lich wei­ten Parks ein Bau­werk er­blick­te, das in dem einst­mals den Klos­ter­bau­ten ei­gen­tüm­li­chen Stil er­rich­tet war. »Wie die­se Kerls von Mön­chen es ver­stan­den ha­ben, eine Bau­stel­le aus­zu­wäh­len!« Die­ser neue Aus­ruf war der Aus­druck des Er­stau­nens, das dem Be­am­ten die schö­ne Ein­sie­de­lei ver­ur­sach­te, die sich sei­nen Bli­cken dar­bot. Das Haus lag halb­seits auf dem Ab­hang des Ber­ges, des­sen Gip­fel von dem Dor­fe Ner­ville ein­ge­nom­men wird. Die großen hun­dert­jäh­ri­gen Ei­chen des Wal­des, der einen rie­si­gen Kreis um die­se Be­hau­sung zog, mach­ten dar­aus eine rich­ti­ge Ein­sie­de­lei. Der einst für die Mön­che be­stimm­te Haupt­flü­gel lag ge­gen Sü­den. Der Park schi­en vier­zig Mor­gen zu um­fas­sen. Nahe bei dem Hau­se brei­te­te sich eine grü­ne Wie­se aus, die in glück­li­cher Wei­se von meh­re­ren kla­ren Bä­chen und von ge­schickt an­ge­brach­ten Was­ser­fäl­len durch­flos­sen war, all das an­schei­nend ohne An­wen­dung von Kunst. Hier und da er­ho­ben sich grü­ne Bäu­me von ele­gan­ten For­men mit ver­schie­den­ar­ti­gem Laub. Dann ga­ben da ge­schickt aus­ge­spar­te Grot­ten, mäch­ti­ge Ter­ras­sen mit be­schä­dig­ten Trep­pen und ros­ti­gen Ge­län­dern die­ser wil­den The­bais einen be­son­de­ren Aus­druck. Die Kunst hat­te ge­fäl­lig ihre Bau­ten mit den ma­le­ri­schen Wir­kun­gen der Na­tur ver­ei­nigt. Die mensch­li­chen Lei­den­schaf­ten schie­nen am Fuß der großen Bäu­me ster­ben zu müs­sen, die die­ses Asyl vor dem Her­an­strö­men des Lärms der Welt ver­tei­dig­ten, wie sie die Glut der Son­ne mä­ßig­ten.

      »Was für ein Ver­fall!« sag­te sich Herr d’Al­bon, nach­dem er den düs­te­ren Aus­druck emp­fun­den hat­te, den die Rui­nen der Land­schaft ver­lie­hen, die wie mit ei­nem Fluch ge­schla­gen er­schi­en. Es war wie ein von den Men­schen ver­las­se­ner ver­wünsch­ter Ort. Der Efeu hat­te über­all sei­ne ge­wun­de­nen Ran­ken und sei­nen rei­chen Blät­ter­man­tel aus­ge­brei­tet. Brau­nes, grü­nes, gel­bes oder ro­tes Moos über­zog mit sei­ner ro­man­ti­schen Fär­bung Bäu­me, Bän­ke, Dä­cher und Stei­ne. Die wurm­sti­chi­gen Fens­ter wa­ren vom Re­gen ver­wa­schen und vom Wet­ter durch­lö­chert, die Bal­ko­ne zer­bro­chen, die Ter­ras­sen zer­stört. Man­che Ja­lou­si­en hiel­ten nur noch an ei­nem Ha­ken. Die nicht schlie­ßen­den Tü­ren schie­nen kei­nem An­grei­fer stand­hal­ten zu kön­nen. Be­han­gen mit leuch­ten­den Tuffs von Mis­teln, brei­te­ten sich die un­ge­pfleg­ten Äste der Frucht­bäu­me weit­hin aus, ohne eine Ern­te zu ge­ben. Hoch­ge­wach­se­nes Kraut über­wu­cher­te die Al­leen. Die­se Res­te ga­ben dem Bil­de den Aus­druck reiz­vol­ler Poe­sie und er­reg­ten in der See­le des Be­schau­ers träu­me­ri­sche Ge­dan­ken. Ein Dich­ter wäre hier in lan­ge wäh­ren­de Me­lan­cho­lie ver­sun­ken, vol­ler Be­wun­de­rung für die­se har­mo­ni­sche Un­ord­nung, für die­ses reiz­vol­le Bild der Zer­stö­rung. In die­sem Mo­ment er­glänz­ten ei­ni­ge Son­nen­strah­len mit­ten durch die Lücken der Wol­ken und be­leuch­te­ten mit tau­send Far­ben die­se halb wil­de Sze­ne. Die brau­nen Dach­zie­gel er­strahl­ten, das Moos leuch­te­te, phan­tas­ti­sche Schat­ten husch­ten über die Wie­sen un­ter den Bäu­men hin; die er­stor­be­nen Far­ben leb­ten wie­der auf, ei­gen­ar­ti­ge Ge­gen­sät­ze mach­ten sich gel­tend, das Blatt­werk hob sich scharf in der Hel­lig­keit ab. Plötz­lich ver­schwand das Licht. Die Land­schaft, die ge­spro­chen zu ha­ben schi­en, wur­de stumm und wie­der düs­ter, oder viel­mehr matt wie der mat­tes­te Schim­mer ei­nes Herbst­ne­bels.

      »Das ist Dorn­rös­chens Schloß,« sag­te sich der Rat, der das Haus nur noch mit den Au­gen des Ei­gen­tü­mers an­sah. »Wem mag es nur ge­hö­ren? Man muß sehr tö­richt sein, wenn man einen so hüb­schen Be­sitz nicht be­wohnt!«

      Plötz­lich sprang eine Frau un­ter ei­nem rechts vom Git­ter ste­hen­den Nuß­baum her­vor und husch­te, ohne Geräusch zu ma­chen, so schnell wie der Schat­ten ei­ner Wol­ke bei dem Rat vor­bei; die­se Er­schei­nung mach­te ihn stumm vor Stau­nen.

      »Nun, d’Al­bon, was ha­ben Sie?« frag­te ihn der Oberst.

      »Ich rei­be mir die Au­gen, um zu wis­sen, ob ich schla­fe oder wa­che«, ant­wor­te­te der Be­am­te und drück­te sich an das Git­ter, um zu ver­su­chen, das Phan­tom noch­mals zu er­bli­cken.

      »Sie ist jetzt wahr­schein­lich un­ter dem Fei­gen­baum«, sag­te er und zeig­te Phil­ipp die Blatt­kro­ne ei­nes Bau­mes, der links vom Git­ter über der Mau­er em­por­rag­te.

      »Wer denn, sie?«

      »Ja, kann ich das wis­sen?« ent­geg­ne­te Herr d’Al­bon. »Eben hat sich hier vor mir eine fremd­ar­ti­ge Frau­en­ge­stalt er­ho­ben«, sag­te er lei­se; »sie schi­en mir mehr dem Reich der Schat­ten als der Welt der Le­ben­den an­zu­ge­hö­ren. Sie er­scheint so schlank, so leicht, so luft­ar­tig, daß sie durch­sich­tig sein muß. Ihr Ge­sicht ist weiß wie Milch. Ihre Klei­dung, ihre Au­gen, ihre Haa­re sind schwarz. Sie hat mich im Vor­bei­kom­men an­ge­blickt, und ob­gleich ich nicht furcht­sam bin, hat ihr un­be­weg­li­cher kal­ter Blick mir das Blut in den Adern er­star­ren las­sen.«

      »Ist sie hübsch?« frag­te Phil­ipp.

      »Ich weiß es nicht. Ich habe nur die Au­gen in ih­rem Ge­sicht ge­se­hen.«

      »Also zum Teu­fel mit un­serm Di­ner in Cassan!« rief der Oberst, »blei­ben wir hier. Ich habe eine kin­di­sche Lust, in die­se ei­gen­ar­ti­ge Be­sit­zung hin­ein­zu­ge­hen. Siehst du die­se rot­ge­mal­ten Fens­te­r­ein­fas­sun­gen und die­se ro­ten, auf das Ge­sims der Tü­ren und Fens­ter­lä­den ge­mal­ten Strei­fen? Scheint das dir nicht das Haus des Teu­fels zu sein? Er wird es viel­leicht von den Mön­chen ge­erbt ha­ben. Vor­wärts! Ei­len wir hin­ter der schwarz­wei­ßen Dame her! Vor­wärts!« rief Phil­ipp mit ge­mach­ter Lus­tig­keit.

      In die­sem Au­gen­blick hör­ten die bei­den Jä­ger einen Schrei, der dem ei­ner in der Fal­le ge­fan­ge­nen Maus ziem­lich ähn­lich war. Sie horch­ten. Das Geräusch der ge­streif­ten