Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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Tuch und den Stoff der Wa­gen, um sich zu be­de­cken, und schlie­fen dann, an­statt ih­ren Marsch fort­zu­set­zen und in Ruhe wäh­rend der Nacht die Be­re­si­na zu über­schrei­ten, die ein un­glaub­li­ches Ver­häng­nis der Ar­mee schon so ver­derb­lich ge­macht hat­te. Die Wil­len­lo­sig­keit die­ser ar­men Sol­da­ten kann nur von de­nen be­grif­fen wer­den, die sich er­in­nern wer­den, wie sie die­se rie­si­gen Schnee­wüs­ten durch­wan­dert ha­ben, ohne an­de­res Ge­tränk als Schnee, ohne ein an­de­res Bett als Schnee, ohne einen an­dern Aus­blick als auf einen Ho­ri­zont von Schnee, ohne eine an­de­re Nah­rung als Schnee oder ei­ni­ge er­fro­re­ne Rü­ben und et­li­che Hand­voll Mehl oder Pfer­de­fleisch. Halb­tot vor Hun­ger, Durst, Mü­dig­keit und Schlaf­sucht, lang­ten die Un­glück­li­chen an ei­nem Ufer an, wo sie Holz, Feu­er, Le­bens­mit­tel, un­zäh­li­ge ver­las­se­ne Fuhr­wer­ke und Zel­te vor­fan­den, kurz eine gan­ze im­pro­vi­sier­te Stadt. Das Dorf Stud­zi­an­ka war völ­lig zer­legt, ver­teilt und von den Hö­hen in die Ebe­ne hin­ab­ge­bracht wor­den. Wie kläg­lich und ge­fähr­lich die­se Stadt war, ihr Elend und ihr Jam­mer lach­ten die Leu­te an, die nur die schreck­li­chen Wüs­ten Ruß­lands vor sich sa­hen. Es war nur ein un­ge­heu­res Kran­ken­haus, dem kei­ne zwan­zig Stun­den Exis­tenz be­schie­den wa­ren. Die Mat­tig­keit ih­rer Le­bens­kräf­te oder das Ge­fühl ei­nes un­er­war­te­ten Wohl­be­ha­gens ließ in die­ser Men­schen­mas­se kei­nen an­de­ren Ge­dan­ken auf­kom­men als den der Ruhe. Ob­gleich die Ar­til­le­rie des lin­ken rus­si­schen Flü­gels ohne Un­ter­laß auf die­se Men­ge schoß, die sich als ein großer, bald dunk­ler, bald flam­men­der Fleck mit­ten auf dem Schnee ab­zeich­ne­te, war der un­er­müd­li­che Ku­gel­re­gen für die er­starr­te Mas­se nur eine Unan­nehm­lich­keit mehr. Es war wie ein Un­wet­ter, des­sen Blit­ze von al­ler Welt ge­ring ge­schätzt wur­den, weil sie hier oder dort nur auf Ster­ben­de, Kran­ke oder viel­leicht schon Tote tra­fen. Je­den Au­gen­blick tra­fen Nach­züg­ler in Grup­pen ein. Die­se Ar­ten wan­deln­der Ka­da­ver ver­teil­ten sich so­gleich und bet­tel­ten von Herd zu Herd um einen Platz; dann, meis­tens zu­rück­ge­trie­ben, ver­ei­nig­ten sie sich von neu­em, um mit Ge­walt die ver­wei­ger­te Gast­freund­schaft zu er­zwin­gen. Taub ge­gen die Stim­men et­li­cher Of­fi­zie­re, die ih­nen den Tod für den nächs­ten Tag vor­aus­sag­ten, ver­brauch­ten sie das für das Über­schrei­ten des Flus­ses er­for­der­li­che Quan­tum von Mut, um sich ein Asyl für die Nacht her­zu­stel­len und eine häu­fig ver­häng­nis­vol­le Mahl­zeit zu sich zu neh­men; der Tod, der sie er­war­te­te, schi­en ih­nen kein Un­glück mehr zu sein, da er ih­nen eine Stun­de Schlaf ver­gönn­te. Mit ›Un­glück‹ be­zeich­ne­ten sie nur den Hun­ger, den Durst, die Käl­te. Wenn sie kein Holz, kein Feu­er, kei­ne Klei­dung, kein Ob­dach fan­den, ent­span­nen sich fürch­ter­li­che Kämp­fe zwi­schen de­nen, die von al­lem ent­blö­ßt hin­zu­ka­men, und den Rei­chen, die eine Woh­nung be­sa­ßen. Die Schwä­che­ren un­ter­la­gen da­bei. Schließ­lich trat der Mo­ment ein, wo et­li­che von den Rus­sen Ver­jag­te nur noch Schnee als La­ger hat­ten und sich dar­auf nie­der­leg­ten, um sich nicht wie­der zu er­he­ben. Un­merk­lich schloß sich die­se Men­ge fast leb­lo­ser We­sen so fest zu­sam­men, wur­de so taub, so stumpf oder viel­leicht auch so glück­se­lig, daß der Mar­schall Vic­tor, ihr hel­den­mü­ti­ger Ver­tei­di­ger, der zwan­zig­tau­send von Witt­gen­stein be­feh­lig­ten Rus­sen Wi­der­stand ge­leis­tet hat­te, ge­nö­tigt war, sich mit schnel­ler Ge­walt einen Weg durch die­sen Wald von Men­schen zu bah­nen, um mit fünf­tau­send Tap­fe­ren, die er dem Kai­ser zu­führ­te, über die Be­re­si­na zu set­zen. Die­se Un­glück­li­chen lie­ßen sich lie­ber tottre­ten als sich zu rüh­ren, und gin­gen still­schwei­gend zu­grun­de, in­dem sie ih­ren er­lo­sche­nen Feu­ern zu­lä­chel­ten, ohne Frank­reichs zu ge­den­ken.

      Erst um zehn Uhr abends be­fand sich der Her­zog von Bel­lu­ne am an­dern Ufer des Flus­ses. Be­vor er sich auf die Brücken be­gab, die nach Zem­bin führ­ten, ver­trau­te er das Schick­sal der Nach­hut von Stud­zi­an­ka Eblé an, dem Ret­ter al­ler de­rer, die das Un­glück der Be­re­si­na über­leb­ten. Es war un­ge­fähr ge­gen Mit­ter­nacht, als die­ser große Ge­ne­ral in Beglei­tung ei­nes tap­fe­ren Of­fi­ziers die klei­ne Hüt­te ver­ließ, die er nahe bei der Brücke be­wohn­te, und sich an­schick­te, das Schau­spiel zu be­trach­ten, wel­ches das La­ger zwi­schen dem Ufer der Be­re­si­na und dem Wege von Bo­ri­zof nach Stud­zi­an­ka bot. Die rus­si­sche Ar­til­le­rie hat­te auf­ge­hört zu feu­ern; die un­zäh­li­gen Feu­er in­mit­ten die­ser Schnee­mas­sen, die her­ab­ge­brannt wa­ren und kein Licht mehr zu ver­brei­ten schie­nen, be­leuch­te­ten hier und da Ge­sich­ter, die nichts Men­sch­li­ches mehr an sich hat­ten. Un­ge­fähr drei­ßig­tau­send Un­glück­li­che, zu al­len Na­tio­nen ge­hö­rig, die Na­po­le­on nach Ruß­land ge­wor­fen hat­te, wa­ren hier zu­sam­men und kämpf­ten mit bru­ta­ler Un­be­küm­mert­heit um ihr Le­ben.

      ›Ret­ten wir die­se al­le‹, sag­te der Ge­ne­ral zu dem Of­fi­zier. ›Mor­gen früh wer­den die Rus­sen Her­ren von Stud­zi­an­ka sein. Man muß also die Brücke nie­der­bren­nen im Au­gen­blick, wo die Rus­sen er­schei­nen wer­den; also Mut, mein Freund! Schla­ge dich durch bis zur Höhe. Sag dem Ge­ne­ral Four­nier, daß er kaum Zeit ha­ben wird, sei­ne Stel­lung auf­zu­ge­ben, die­se gan­ze Ge­sell­schaft zu durch­bre­chen und die Brücke zu pas­sie­ren. So­bald du siehst, daß er sich in Marsch setzt, wirst du ihm fol­gen. Mit Hil­fe ei­ni­ger kräf­ti­ger Leu­te wirst du mit­leid­los die La­ger, die Equi­pa­gen, die Kas­ten, die Wa­gen, al­les nie­der­bren­nen! Trei­be die gan­ze Ge­sell­schaft über die Brücke; zwin­ge al­les, was zwei Bei­ne hat, auf das an­de­re Ufer zu flüch­ten. Das Nie­der­bren­nen ist jetzt un­se­re letz­te Ret­tung. Hät­te Bert­hier mich die­se ver­damm­ten Equi­pa­gen ver­nich­ten las­sen, wür­de der Fluß nie­man­den fort­ge­schwemmt ha­ben als mei­ne ar­men Pio­nie­re, die fünf­zig Hel­den, die die ar­men ge­ret­tet ha­ben und die man ver­ges­sen wird!‹

      Der Ge­ne­ral führ­te die Hand an sei­ne Stirn und ver­weil­te schwei­gend. Er hat­te die Emp­fin­dung, daß Po­len sein Grab sein wür­de, und daß kei­ne Stim­me sich zu­guns­ten die­ser edel­mü­ti­gen Män­ner er­he­ben wür­de, die sich im Was­ser hiel­ten, im Was­ser der Be­re­si­na!, um die Brücken­pfäh­le festz­u­ma­chen. Ein ein­zi­ger von ih­nen lebt, oder kor­rek­ter ge­sagt, lei­det heu­te noch in ei­nem Dor­fe, ein Un­be­kann­ter! Der Ad­ju­tant ent­fern­te sich. Kaum hat­te die­ser edel­mü­ti­ge Of­fi­zier hun­dert Schrit­te nach Stud­zi­an­ka hin ge­macht, als der Ge­ne­ral Eblé meh­re­re sei­ner lei­den­den Pio­nie­re auf­weck­te und sein Ret­tungs­werk be­gann, in­dem er die Zel­te, die um die Brücke her­um er­rich­tet wa­ren, an­zün­de­te und so die Schlä­fer, die ihn um­ga­ben, die Be­re­si­na zu über­schrei­ten zwang. In­zwi­schen war der jun­ge Ad­ju­tant nicht ohne Mühe bei dem ein­zi­gen Holz­hau­se an­ge­langt, das noch in Stud­zi­an­ka auf­recht stand.

      ›Ist denn die­se Ba­ra­cke sehr voll, Ka­me­rad?‹ sag­te er zu ei­nem Man­ne, den er drau­ßen be­merk­te.

      ›Wenn Sie her­ein­kom­men, wer­den Sie ein ge­schick­ter al­ter Sol­dat sein,‹ er­wi­der­te der Of­fi­zier, ohne sich um­zu­wen­den und ohne auf­zu­hö­ren, mit sei­nem Sä­bel das Holz des Hau­ses zu zer­stö­ren.

      ›Sind Sie es, Phil­ipp?‹ sag­te der Ad­ju­tant, der am Klan­ge der Stim­me einen sei­ner Freun­de er­kann­te. ›Ja­wohl. Ach, du bist es, mein Al­ter!‹ ent­geg­ne­te