Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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be­deckt, auf dem sich die Trä­nen­spu­ren von den Au­gen bis zum un­te­ren Teil der Wan­gen mit ei­ner Fur­che ab­zeich­ne­ten, die die Di­cke die­ser Krus­te an­zeig­te. Die Unsau­ber­keit ih­rer lan­gen Bär­te mach­te die Sol­da­ten noch ab­scheu­li­cher. Die einen wa­ren in Wei­ber­schals ge­wi­ckelt; die an­de­ren tru­gen Pfer­de­scha­bra­cken, schmut­zi­ge De­cken und Lum­pen, be­deckt mit Reif, der an­fing zu zer­schmel­zen; ei­ni­ge hat­ten einen Fuß in ei­nem Schuh, den an­dern in ei­nem Stie­fel; schließ­lich gab es nie­man­den, des­sen Klei­dung nicht ir­gend­ei­ne lä­cher­li­che Be­son­der­heit auf­wies. In­mit­ten die­ser ko­mi­schen Um­hül­lung ver­harr­ten die Män­ner ernst und düs­ter. Das Schwei­gen wur­de nur von dem Kra­chen des Hol­zes un­ter­bro­chen, von dem Fla­ckern der Flam­me, von dem fer­nen Geräusch des Fel­des und von den Sä­bel­hie­ben, die die Ver­hun­gerts­ten Bi­chet­te ver­setz­ten, um die bes­ten Stücke da­von ab­zu­rei­ßen. Ei­ni­ge Un­glück­li­che, mat­ter als die an­dern, schlie­fen be­reits, und wenn ei­ner von ih­nen ins Feu­er roll­te, zog ihn nie­mand zu­rück. Die­se stren­gen Lo­gi­ker dach­ten, daß, wenn er nicht tot war, das Ver­bren­nen ihn schon ver­an­las­sen wür­de, sich an einen ge­eig­ne­te­ren Ort hin­zu­le­gen. Wenn aber der Un­glück­li­che im Feu­er er­wach­te und um­kam, so be­klag­te ihn nie­mand. Et­li­che Sol­da­ten sa­hen ein­an­der an, wie um ihre ei­ge­ne Un­be­küm­mert­heit durch die Gleich­gül­tig­keit der an­de­ren ge­recht­fer­tigt zu se­hen. Die jun­ge Grä­fin hat­te zwei­mal einen sol­chen An­blick und blieb stumm. Als die ver­schie­de­nen Stücke, die man auf die Koh­len ge­legt hat­te, ge­bra­ten wa­ren, still­te je­der sei­nen Hun­ger mit der Freß­gier, die uns bei den Tie­ren so wi­der­wär­tig er­scheint.

      »Das ist das ers­te­mal, daß man drei­ßig In­fan­te­ris­ten auf ei­nem Pfer­de ge­se­hen hat,« rief der Gre­na­dier, der das Tier ab­ge­sto­chen hat­te.

      Das war der ein­zi­ge Scherz, der na­tio­na­len Witz be­zeug­te.

      Bald roll­te sich die Mehr­zahl der ar­men Sol­da­ten in ihre Klei­der, leg­te sich auf Bret­ter, auf al­les, was sie vor der Berüh­rung mit dem Schnee schüt­zen konn­te, und schlief un­be­küm­mert bis zum nächs­ten Mor­gen. Als der Ma­jor sich er­wärmt und sei­nen Hun­ger ge­füllt hat­te, drück­te ihm ein un­be­zwing­li­ches Schlaf­be­dürf­nis auf die Wim­pern. Wäh­rend sei­nes ziem­lich kur­z­en Kamp­fes mit dem Schla­fe be­trach­te­te er die jun­ge Frau, die, mit dem Ge­sicht zum Feu­er ge­wen­det, um zu schla­fen, ihre ge­schlos­se­nen Au­gen und einen Teil ih­rer Stirn se­hen ließ; sie war in einen dich­ten Pelz und einen di­cken Dra­go­ner­man­tel ge­wi­ckelt; ihr Kopf lag auf ei­nem blut­be­fleck­ten Kopf­kis­sen; ihre, von ei­nem um den Hals ge­schlun­ge­nen Ta­schen­tuch fest­ge­hal­te­ne Astra­chan­müt­ze schütz­te ihr Ge­sicht so viel als mög­lich vor der Käl­te; die Füße hat­te sie in den Man­tel ver­steckt. So in sich selbst zu­sam­men­ge­rollt, glich sie in der Tat nichts Men­sch­li­chem. War sie die letz­te Mar­ke­ten­de­rin? War sie die ent­zücken­de Frau, der Stolz ei­nes Lieb­ha­bers, die Kö­ni­gin der Pa­ri­ser Bäl­le? Ach! Selbst das Auge ih­res hin­ge­bends­ten Freun­des konn­te nichts Weib­li­ches mehr in die­sem Hau­fen von Wä­sche und Lum­pen er­ken­nen. Der Käl­te war die Lie­be im Her­zen ei­ner Frau ge­wi­chen. Durch die dich­ten Schlei­er, die der un­wi­der­steh­lichs­te Schlaf über die Au­gen des Ma­jors brei­te­te, sah er den Mann und die Frau nur noch wie zwei Punk­te. Die Flam­men des Feu­ers, die Ge­sich­ter über­all, die schreck­li­che Käl­te, die, drei Schrit­te von der flüch­ti­gen Wär­me ent­fernt, sich durch­boh­rend gel­tend mach­te, al­les floß in einen Traum zu­sam­men. Ein pein­li­cher Ge­dan­ke er­schreck­te Phil­ipp. »Wir wer­den alle ster­ben, wenn ich ein­schla­fe; ich will nicht schla­fen,« sag­te er sich. Aber er schlief. Ein schreck­li­cher Lärm und eine Ex­plo­si­on er­weck­ten Herrn de Sucy nach ei­ner Stun­de Schlaf. Das Ge­fühl, sei­ne Pf­licht tun zu müs­sen, die Ge­fahr sei­ner Freun­de fie­len ihm plötz­lich schwer aufs Herz. Er stieß einen Schrei ähn­lich ei­nem Ge­heul aus. Er und sein Sol­dat stan­den al­lein auf­recht. Sie er­blick­ten ein Feu­er­meer vor sich, das im Schat­ten der Nacht vor ih­nen eine Mas­se Men­schen ab­schnitt, in­dem es die Hüt­ten und Zel­te ver­zehr­te; sie hör­ten Verzweif­lungs­schreie und Ge­heul; sie sa­hen Tau­sen­de von ent­setz­ten Ge­sich­tern und wü­ten­den Köp­fen. In­mit­ten die­ser Höl­le bahn­te sich eine Ko­lon­ne von Sol­da­ten einen Weg nach der Brücke zu zwi­schen zwei Rei­hen von Ka­da­vern hin­durch.

      »Das ist der Rück­zug uns­res Nachtrabs!« rief der Ma­jor. »Kei­ne Hoff­nung mehr!«

      »Ich habe Ihren Wa­gen ge­schont, Phil­ipp,« sag­te eine Freun­des­s­tim­me.

      Als er sich um­wand­te, er­kann­te Sucy beim Licht der Flam­men den jun­gen Ad­ju­tan­ten.

      »Ach, es ist al­les ver­lo­ren!« er­wi­der­te der Ma­jor. »Sie ha­ben mein Pferd ver­zehrt. Und wie soll ich auch den stumpf­sin­ni­gen Ge­ne­ral und sei­ne Frau auf den Weg brin­gen?«

      »Neh­men Sie einen Feu­er­brand und dro­hen Sie ih­nen.«

      »Soll ich die Grä­fin be­dro­hen?«

      »Adieu!« rief der Ad­ju­tant. »Ich habe ge­ra­de nur noch Zeit, die­sen fa­ta­len Fluß zu über­schrei­ten, und das muß ge­sche­hen. Ich habe eine Mut­ter in Frank­reich. Was für eine Nacht! Die­se Mas­se hier will lie­ber auf dem Schnee blei­ben, und die Mehr­zahl die­ser Un­glück­li­chen will sich lie­ber ver­bren­nen las­sen als sich er­he­ben. Es ist vier Uhr, Phil­ipp! In zwei Stun­den wer­den die Rus­sen an­fan­gen sich zu rüh­ren. Ich ver­si­che­re Ih­nen, daß Sie die Be­re­si­na bald vol­ler Leich­na­me se­hen wer­den. Den­ken Sie an sich, Phil­ipp! Sie ha­ben kei­ne Pfer­de, Sie kön­nen die Grä­fin nicht tra­gen; also vor­wärts, kom­men Sie mit mir,« sag­te er und faß­te ihn am Arme.

      »Aber, lie­ber Freund, wie soll ich Ste­pha­nie ver­las­sen!«

      Der Ma­jor er­griff die Grä­fin, stell­te sie auf die Bei­ne, schüt­tel­te sie mit der Rau­heit ei­nes Verzwei­fel­ten und zwang sie, auf­zu­wa­chen; sie sah ihn mit to­tem, star­rem Bli­cke an.

      ›Wir müs­sen vor­wärts, Ste­pha­nie, oder wir ster­ben hier.‹

      Als alle Ant­wort ver­such­te die Grä­fin, sich zur Erde glei­ten zu las­sen, um zu schla­fen. Der Ad­ju­tant er­griff einen Feu­er­brand und be­weg­te ihn vor dem Ge­sicht Ste­pha­nies hin und her.

      ›Ret­ten wir sie ge­gen ih­ren Wil­len!‹ rief Phil­ipp, hob die Grä­fin auf und trug sie in den Wa­gen.

      Er kehr­te zu­rück und bat den Ad­ju­tan­ten um Hil­fe. Bei­de nah­men den al­ten Ge­ne­ral, ohne zu wis­sen, ob er tot oder le­ben­dig war, und leg­ten ihn ne­ben sei­ne Frau. Der Ma­jor stieß mit dem Fuße je­den ein­zel­nen der auf der Erde lie­gen­den Leu­te weg, nahm ih­nen ab, was sie ge­raubt hat­ten, häuf­te alle Klei­der auf die bei­den Gat­ten und warf in eine Ecke des Wa­gens et­li­che ge­bra­te­ne Stücke ih­res Pfer­des. ›Was wol­len Sie denn ma­chen?‹ frag­te ihn der Ad­ju­tant.

      ›Sie schlep­pen‹, sag­te der Ma­jor.

      ›Sie sind wohl toll!‹

      ›Das ist wahr!‹ rief Phil­ipp und kreuz­te die Arme über der Brust.

      Plötz­lich schi­en er von ei­nem ver­zwei­fel­ten Ge­dan­ken ge­packt zu sein.

      ›Du!‹, sag­te er und er­griff den ge­sun­den