von Erstaunen oder Verständnis zu geben. Die Luft war glühend. Die Steinbank schien zu funkeln, und die Wiese strahlte dem Himmel diese ruhelosen Düfte entgegen, die über den Kräutern flimmern und glühen wie ein goldener Staub; aber Genovefa schien die verzehrende Hitze nicht zu spüren. Der Oberst drückte heftig die Hände des Arztes in den seinigen. Aus den Augen des Soldaten rollten Tränen die männlichen Wangen entlang und fielen auf den Rasen zu Stephanies Füßen.
»Mein Herr,« sagte der Onkel, »jetzt sind es zwei Jahre her, daß mir täglich das Herz brechen will. Bald werden Sie so weit sein wie ich. Wenn Sie nicht mehr weinen, so werden Sie Ihren Schmerz nicht um so weniger empfinden.«
»Sie haben für sie gesorgt?« sagte der Oberst, dessen Blicke ebensoviel Dankbarkeit wie Eifersucht ausdrückten.
Die beiden Männer verstanden sich; und indem sie sich von neuem die Hand drückten, blieben sie unbeweglich in der Betrachtung der herrlichen Ruhe, die der Schlaf über dieses entzückende Wesen ausbreitete. Von Zeit zu Zeit stieß Stephanie einen Seufzer aus, und dieser Seufzer, der alle Anzeichen des Gefühls zeigte, ließ den unglücklichen Obersten vor Freude erzittern.
»Ach,« sagte Herr Fanjat leise zu ihm, »täuschen Sie sich nicht, mein Herr, Sie sehen sie jetzt bei voller Vernunft.«
Wer je voller Entzücken damit beschäftigt war, ganze Stunden lang eine zärtlich geliebte Person schlafen zu sehen, deren Augen im Schlafe lächeln müßten, wird zweifellos das süße und furchtbare Gefühl begreifen, das den Obersten bewegte. Für ihn war der Schlaf eine Vorspiegelung; das Erwachen mußte für ihn den Tod bedeuten, und zwar den schrecklichsten aller Tode. Plötzlich lief eine junge Ziege in drei Sprüngen auf die Bank zu und witterte Stephanie, welche das Geräusch erweckte; sie richtete sich leicht auf den Füßen auf, ohne daß diese Bewegung das launische Tier erschreckte; aber als sie Philipp bemerkte, floh sie, von ihrem vierfüßigen Gefährten gefolgt, bis zu einer Hollunderhecke; dann ließ sie einen kleinen wilden Vogelschrei hören, den der Oberst nahe beim Gitter schon gehört hatte, wo die Gräfin Herrn d’Albon zum erstenmal erschienen war. Schließlich kletterte sie auf einen wilden Ebenholzbaum, hockte sich in dem grünen Gipfel dieses Baumes fest und fing an, den »Unbekannten« mit der Neugier der Nachtigallen des Waldes zu betrachten.
»Adieu, adieu, adieu!« sagte sie, ohne daß ihre Seele diesem Worte eine Betonung verlieh.
Es war die Gleichgültigkeit eines in der Luft singenden Vogels.
»Sie erkennt mich nicht mehr! rief der verzweifelte Oberst. »Stephanie! Das ist ja Philipp, dein Philipp, Philipp!«
Und der arme Soldat sprang auf den Baum zu; aber als er drei Schritt von ihm entfernt war, sah ihn die Gräfin an, wie um ihm zu trotzen, obwohl ein furchtsamer Ausdruck in ihrem Auge erschien; dann rettete sie sich von dem Ebenholzbaum auf eine Akazie, und von da auf eine nordische Tanne, wo sie sich von Zweig zu Zweig mit unerhörter Leichtigkeit wiegte.
»Verfolgen Sie sie nicht«, sagte Herr Fanjat zu dem Obersten. »Sie könnten zwischen ihr und sich einen unüberwindlichen Zwiespalt aufrichten; ich werde Ihnen helfen, sie kennenzulernen und sie zu zähmen. Kommen Sie auf diese Bank hier. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit nicht auf diese arme Irre richten, dann werden Sie sie bald unmerklich näher kommen sehen, um Sie zu prüfen.«
»Sie! Mich nicht wiedererkennen und mich fliehen!« wiederholte der Oberst und lehnte den Rücken gegen einen Baum, dessen Blätter eine ländliche Bank beschatteten. Der Doktor verharrte stillschweigend.
Bald kam die Gräfin von dem Gipfel der Tanne sachte von oben herab, indem sie wie ein Irrlicht herabschwankte und sich zuweilen mit den Regungen des Windes mitgehen ließ, die er den Bäumen mitteilte. Bei jedem Aste hielt sie still, um nach dem Fremden auszuspähen; aber da sie ihn unbeweglich sah, sprang sie schließlich auf das Gras, stellte sich aufrecht und kam mit langsamem Schritt quer über die Wiese auf ihn zu. Als sie an einem Baum, ungefähr zehn Fuß von der Bank entfernt stand, sagte Herr Fanjat leise zu dem Obersten:
»Nehmen Sie vorsichtig in meiner rechten Tasche etliche Stücke Zucker und zeigen Sie sie ihr, sie wird dann näher kommen; ich werde zu Ihren Gunsten auf das Vergnügen verzichten, ihr einige Leckereien zu verschaffen. Mit Unterstützung des Zuckers wird sie Sie leidenschaftlich lieben, Sie werden sie gewöhnen, Ihnen näher zu kommen und Sie wieder zu erkennen.«
»Als sie ein echtes Weib war,« antwortete Philipp traurig, »hatte sie gar keinen Geschmack für Süßigkeiten.«
Als der Oberst Stephanie mit dem Stückchen Zucker winkte, das er ihr mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hinhielt, stieß sie einen neuen wilden Schrei aus und eilte auf Philipp zu; dann blieb sie stehen, von der instinktiven Furcht bewegt, die sich ihr aufdrängte; abwechselnd betrachtete sie den Zucker und wandte den Kopf ab, wie die armseligen Hunde, denen die Herren verbieten, an ein Gericht zu rühren, bevor man ihnen einen der letzten Buchstaben des Alphabets nennt, das man langsam rezitiert hat. Endlich siegte die tierische Leidenschaft über die Furcht: Stephanie stürzte sich auf Philipp, streckte schüchtern ihre hübsche braune Hand aus, um die Beute zu ergreifen, berührte die Finger ihres Geliebten, packte den Zucker und verschwand in einem Gebüsch des Waldes. Diese schauderhafte Szene schlug den Obersten vollends danieder, der in Tränen ausbrach und sich in seinen Salon flüchtete.
»Verleiht die Liebe denn weniger Mut als die Freundschaft?« sagte Herr Fanjat zu ihm: »Ich habe noch Hoffnung, Herr Baron. Meine arme Nichte war in einem viel bedauernswerteren Zustande, als dem, in dem Sie sie sehen.«
»Ist das noch möglich?« rief Philipp aus.
»Sie war nackt geblieben«, erwiderte der Mediziner. Der Oberst machte eine Schreckensgebärde und erbleichte; der Doktor glaubte in dieser Blässe einige bösen Symptome zu erkennen: er faßte ihm den Puls und fand ihn einem heftigen Fieber ausgeliefert; auf ernstliches Drängen gelang es ihm, ihn ins Bett zu bringen, und er bereitete ihm eine leichte Dosis Opium, um ihm einen ruhigen Schlaf zu verschaffen. So verliefen ungefähr acht Tage, während deren der Baron von Sucy oft mit tödlicher Angst kämpfte; bald fanden seine Augen keine Tränen mehr. Seine oft erschütterte Seele vermochte sich nicht an das Schauspiel zu gewöhnen, das ihm der Irrsinn der Gräfin darbot; aber er fand sich in gewissem Sinne mit der grausamen Lage ab und erblickte in seinem Schmerze einen Trost. Sein Heroismus kannte keine Grenzen. Er fand den Mut, Stephanie zu zähmen, indem er ihr Süßigkeiten aussuchte; er gab sich solche Mühe, ihr diese Nahrung herbeizubringen, er verstand es, die bescheidenen Eroberungen, die er dem Instinkt seiner Geliebten