Oberst und das Gesicht Stephanies betrachtete, über das der Tod eine strahlende Schönheit, eine flüchtige Glorie ausbreitete, das Pfand vielleicht einer glänzenden Zukunft.
»Ja, sie ist tot.
»Ach, dieses Lächeln!« rief Philipp, »sehen Sie nur dieses Lächeln! Ist es möglich?«
»Sie ist schon kalt«, erwiderte Herr Fanjat.
Herr von Sucy machte einige Schritte, um sich von diesem Schauspiel loßzureißen; aber er hielt an, pfiff das Lied, das die Irre kannte, und als er seine Geliebte nicht kommen sah, entfernte er sich mit schwankendem Schritt, wie ein Trunkener, immer pfeifend, aber ohne sich noch einmal umzusehen.
Der General Philipp von Sucy galt in der Gesellschaft als ein sehr liebenswürdiger und namentlich als ein sehr heiterer Mann. Vor einigen Tagen beglückwünschte ihn eine Dame wegen seiner guten Laune und der Beständigkeit seines Charakters.
»Ach, meine Gnädige,« sagte er, »ich bezahle meine Späße recht teuer, des Abends, wenn ich alleine bin!«
»Sind Sie denn jemals allein?«
»Nein,« antwortete er lächelnd.
Wenn ein kluger Beobachter der menschlichen Natur in diesem Augenblick den Ausdruck des Grafen von Sucy hätte beobachten können, würde er vielleicht geschaudert haben.
»Warum heiraten Sie nicht?« fuhr jene Dame fort, die selbst mehrere Töchter in einem Pensionat hatte. »Sie sind reich, Standesperson, von altem Adel; Sie haben Talente, Sie haben noch eine Zukunft, alles lächelt Ihnen zu.«
»Jawohl«, erwiderte er, »aber es ist ein Lächeln, das mich tötet.«
Am nächsten Tage erfuhr die Dame voll Erstaunen, daß Herr von Sucy sich während der Nacht eine Kugel vor den Kopf geschossen hatte. Die gute Gesellschaft unterhielt sich verschiedentlich über dieses außergewöhnliche Ereignis, und jeder suchte nach dem Grunde. Je nach dem Geschmack des Beurteilers wurden das Spiel, die Liebe, der Ehrgeiz, verborgene Ausschweifungen als Erklärung gegeben für diese Katastrophe, die letzte Szene eines Dramas, das im Jahre 1812 begonnen hatte. Zwei Menschen allein, ein Beamter und ein alter Arzt, wußten, daß der Graf von Sucy einer jener starken Menschen war, denen Gott die unglückselige Kraft verleiht, alle Tage siegreich aus einem furchtbaren Kampf hervorzugehen, den sie einem unbekannten Schrecken liefern. Und daß sie, wenn in einem Augenblick Gott ihnen seine mächtige Hand entzieht, unterliegen.
Cäsar auf dem Gipfel seines Ruhms
In den Winternächten hört der Lärm in der Rue Saint-Honoré nur für einen Augenblick auf; die Gemüsehändler, die in die Markthalle fahren, setzen das Geräusch der Wagen fort, die aus den Theatern oder von den Bällen nach Hause rollen. Gerade in dieser kurzen Ruhepause des Pariser Straßenlärms, die gegen ein Uhr morgens eintritt, fuhr die Frau des Parfümeriehändlers Cäsar Birotteau, der nahe am Vendômeplatz sein Geschäft hatte, jäh aus einem entsetzlichen Traum in die Höhe. Sie hatte sich doppelt gesehen, sie war sich selbst, in Lumpen gehüllt und mit vertrockneter runzliger Hand die Türklinke ihres eigenen Ladens öffnend, erschienen, so daß sie sich gleichzeitig auf ihrer Türschwelle und in ihrem Kontorsessel befand; sie bettelte sich selbst um ein Almosen an, sie hörte sich zugleich an der Tür und im Kontor sprechen. Sie wollte nach ihrem Mann greifen und faßte mit der Hand auf eine kalte Stelle. Da wurde ihre Angst so gewaltig, daß sie ihren steifgewordenen Hals nicht mehr bewegen konnte; die Kehle war ihr wie zugeschnürt, sie konnte keinen Ton herausbringen; die stieren Augen aufgerissen, das Haar schmerzhaft sich sträubend, die Ohren voll von fremdartigen Tönen, das Herz zusammengepreßt, aber heftig schlagend, so saß sie starr wie festgebannt da, zugleich in Schweiß gebadet und zu Eis erstarrt, mitten in dem Alkoven, dessen beide Türen offen standen.
Die Furcht ist ein halb krankhaftes Gefühl, das auf die menschliche Maschinerie so heftig einwirkt, daß ihre Eigenschaften plötzlich sich bis zum höchsten Grade der Möglichkeit steigern oder auch in äußerste Verwirrung geraten. Die Physiologie ist lange Zeit von diesem Phänomen in Erstaunen gesetzt worden, das ihre Systeme über den Haufen wirft und ihre Hypothesen stört, obwohl es ganz einfach nur ein Blitzschlag im Innern ist, aber, wie alle elektrischen Erscheinungen, bizarr und unberechenbar in seiner Art. Diese Erklärung wird von dem Tage an eine Selbstverständlichkeit sein, da die Gelehrten erkannt haben werden, welche überaus wichtige Rolle die Elektrizität bei der Tätigkeit des menschlichen Gehirns spielt.
Frau Birotteau machte also etliche dieser gewissermaßen hellseherischen Schmerzempfindungen durch, die jene schrecklichen Entladungen des durch einen unbekannten Mechanismus ausgeweiteten oder konzentrierten Willens bewirken. So empfand die arme Frau während eines Zeitraumes, der nach der Uhr gemessen sehr kurz, aber nach der Schnelligkeit der einander folgenden Eindrücke berechnet, unmeßbar war, das ungeheuerliche Vermögen, mehr Gedanken zu fassen und mehr Erinnerungen in sich aufsteigen zu lassen, als sie bei normalem Zustande ihrer Fähigkeiten im Verlaufe eines ganzen Tages vermocht hätte. Die anschauliche Wiedergabe dieses Monologes geschieht am besten mit den wenigen ungereimten, widerspruchsvollen und sinnlosen Worten, so wie sie gesprochen wurden:
»Es gibt gar keinen Grund, warum Birotteau aus dem Bett gestiegen ist! Er hat so viel Kalbsbraten gegessen, vielleicht ist ihm schlecht! Aber wenn er unwohl wäre, würde er mich geweckt haben. Neunzehn Jahre schlafen wir zusammen in diesem Bett, in diesem selben Hause, und niemals ist es passiert, daß er aufgestanden wäre, ohne es mir zu sagen, der arme Kerl! Er war nur weg, wenn er die Nacht auf Wache verbringen mußte. Ist er denn heute abend mit mir zusammen schlafen gegangen? Aber gewiß doch; mein Gott, wie dumm bin ich.«
Sie richtete ihren Blick auf das Bett und sah dort die Nachtmütze ihres Mannes, die noch die fast kegelartige Form seines Kopfes zeigte.
»Er ist also tot! Sollte er sich getötet haben? Aber weshalb denn?« fing sie wieder an. »Seit zwei Jahren, seitdem sie ihn zum Beigeordneten ernannt haben, ist er ganz wie ausgetauscht. Ihm ein Amt aufzuladen, ist das nicht, so wahr ich eine anständige Frau bin, zum Erbarmen? Sein Geschäft geht gut, er hat mir einen Schal geschenkt. Sollte es doch nicht gut gehen? Ach, das würde ich doch wissen. Aber kann man jemals wissen, was ein Mann hinter sich hat? Oder eine Frau? Aber das ist auch kein Unglück. Aber wir haben doch heute für fünftausend Franken verkauft! Übrigens kann ein Beigeordneter nicht Selbstmord verüben, dazu kennt er die Gesetze zu gut.