Susan Anne Mason

Ein Wagnis aus Liebe


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keine endgültige Lösung darstellte.

      Heute war bereits der dritte Tag, an dem Grace sich mehrere Stunden auf der gegenüberliegenden Straße des Easton-Anwesens aufhielt. An den zwei vorherigen Tagen war sie am Vormittag gekommen – vergebens. Heute versuchte sie es deshalb am Nachmittag. Nach zweieinhalb Stunden wollte sie sich gerade geschlagen geben und zur Pension zurückkehren, da öffneten sich die schweren Eisentore. Eine junge Frau erschien. Sie trug eine sehr modische pflaumenfarbene Jacke und einen passenden Hut. Vor sich schob sie einen Kinderwagen. Augenblicklich beschleunigte sich Graces Herzschlag: Das war gewiss Christian.

      So unauffällig wie möglich versuchte sie den beiden auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig zu folgen. Grace war erleichtert, dass ihr Knöchel schon wieder so weit verheilt war, dass sie Schritt halten konnte. Einige Häuserblocks später bog die junge Frau in eine Nebenstraße ein, und bevor Grace sie aus den Augen verlor, überquerte auch sie die Straße. Nun war sie nur wenige Meter hinter ihnen. Schließlich kamen sie zu einem Park.

      Jetzt ging Grace langsamer, um es so aussehen zu lassen, als würde sie ziellos durch die Grünanlage schlendern. Dankbarerweise waren sie nicht die einzigen Besucher dort – manche joggten, andere hielten Picknicks ab und wieder andere spielten Ball mit ihren Kindern. Genug Menschen, um nicht besonders aufzufallen.

      Grace ließ den Kinderwagen nicht aus den Augen. Nach zwei Runden durch den Park machte die junge Frau auf einer Bank Pause. Daraufhin ging Grace noch langsamer und zwang sich, die Frau mit dem Kinderwagen nicht anzustarren, als sie an ihr vorbeikam. Als sie sich auf eine nahe gelegene Bank setzte, rief ihr ein Stechen im Fuß ins Gedächtnis, dass sie so einen langen Spaziergang später bereuen würde.

      Während sie immer wieder zu dem Baby und der jungen Frau schielte, bemühte sich Grace, möglichst unauffällig zu wirken, und tat so, als beobachte sie die spielenden Kinder. Die Frau hatte ein Buch dabei und begann nun, darin zu lesen. War das wohl Christians Kindermädchen? Oder gar Roses Schwägerin? Verzweifelt versuchte Grace, sich an Details aus Roses Briefen zu erinnern. Aber da war nichts, Rose hatte nur einen Bruder und eine Schwester von Frank erwähnt und sich sonst lediglich über den unausstehlichen Mr Easton ausgelassen.

      Einige Minuten später fing das Baby an zu weinen. Unweigerlich richtete Grace ihren Blick wieder zum Kinderwagen. Die junge Frau legte das Buch zur Seite, beugte sich über den Wagen und holte das kleine Kind heraus. Sie küsste den Jungen und schmiegte ihn an ihre Brust, dann wickelte sie eine Decke um ihn und kurz darauf hatte er sich wieder beruhigt. Ihr Umgang war so vertraut miteinander, dass Grace zu zweifeln begann: Diese Verbundenheit sah nicht nach nur ein paar wenigen gemeinsamen Wochen aus. Vielleicht war das Baby auch gar nicht ihr Neffe, vielleicht war es das Kind dieser jungen Frau?

      Grace musste es endlich herausfinden. Noch bevor sie sich über ihren verrückten Plan gewahr wurde, stand sie auf und ging zur anderen Bank hinüber.

      „Guten Tag“, begrüßte Grace die beiden mit ihrem freundlichsten Lächeln. „Ich konnte einfach nicht anders, als diesen hübschen Jungen zu bewundern. Ein wahrer Goldspatz.“

      Die Frau strahlte. „Oh, danke sehr. Das sehen wir genauso.“

      „Ihr Mann ist sicher sehr stolz auf ihn“, sprach Grace weiter und merkte, wie sie vor Anspannung beinahe die Luft anhielt, während sie auf eine Reaktion wartete.

      Die Frau schüttelte den Kopf. „Einen Ehemann habe ich nicht. Das ist mein kleiner Neffe.“

      Plötzlich bekam Grace weiche Knie. Sie trat einen Schritt näher und setzte sich ein Stückchen entfernt neben die beiden. „Dann müssen Sie eine sehr hingebungsvolle Tante sein“, gab Grace zurück. Schon beim ersten Blick auf dieses kleine, perfekte Gesicht stockte ihr der Atem: Große blaue Augen, genau wie die ihrer Schwester, schauten sie ganz unverhohlen an.

      Es gab keinen Zweifel, das war eindeutig Roses Sohn. Beinahe kamen Grace die Tränen, doch sie blinzelte sie schnell weg.

      „Haben Sie auch Kinder?“, fragte die junge Frau nun.

      „Nein. Eines Tages vielleicht, so Gott will.“

      „Ja, so denke ich auch. Am liebsten hätte ich ein ganzes Haus voller Kinder. Aber bis dahin habe ich ja den kleinen Christian, nicht wahr, mein Schatz?“ In ihrem Blick lagen tiefe Liebe und Zuneigung und das versetzte Graces Herz einen kleinen Stich. Sie hatte die Eastons immer nur als Feinde betrachtet. Bisher war es ihr unvorstellbar, etwas mit ihnen gemein zu haben. Und doch war es so: Sowohl Grace als auch die junge Frau hatten einen lieben Menschen verloren – zu dem der kleine Christian die einzige noch verbliebene Verbindung war.

      Grace straffte die Schultern und versuchte die sentimentalen Gedanken von sich zu schütteln. Sie durfte ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. „Warten Sie hier auf seine Eltern?“, fragte sie, ohne den Blick von Christians engelsgleichem Gesicht zu lassen.

      „Leider nein. Seine Eltern sind beide verstorben“, erklärte sie mit einem Seufzen und küsste den Kleinen wie zum Trost auf die Stirn. „Aber wir werden dafür sorgen, dass er trotz allem die Liebe und Fürsorge bekommt, die ihm zustehen“, setzte sie nach, während sie ihre Wange an die seine schmiegte.

      Grace schluckte. Die aufkommenden Gefühle verschlugen ihr beinahe die Sprache. „Das tut mir sehr leid“, sagte sie und dachte dabei an ihren eigenen Verlust.

      „Danke.“

      „Ein Kind großzuziehen ist eine ganz schöne Verantwortung. Werden Sie sich um ihn kümmern?“, fragte Grace. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich Mrs Easton, eine wohlhabende Frau mittleren Alters, eine solch beachtliche Aufgabe auftrug. Wahrscheinlich überließ sie das ganz ihrer Tochter.

      „Eigentlich ist mein älterer Bruder sein Vormund.“

      „Oh“, rutschte es Grace heraus, die ihre Überraschung nicht verbergen konnte. Diese Möglichkeit hatte sie nie in Betracht gezogen. Vielleicht war er ja verheiratet und sie dachten, dass er und seine Frau dem kleinen Christian gute Eltern sein würden.

      „Wenn es nach mir gehen würde, hätte ich Christian sofort adoptiert“, sprach die junge Frau weiter und auf ihrem hübschen Gesicht war nun ein Schatten von Besorgnis zu erkennen. „Wie dem auch sei. Die Umstände lassen es nicht zu. Ich werde also auf meine eigenen Kinder warten müssen.“ Traurig zuckte sie mit den Schultern.

      „Sind seine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen?“, fragte Grace vorsichtig.

      „Nein. Seine Mutter ist kürzlich an der Spanischen Grippe gestorben und mein Bruder …“ Ihre Stimme brach. „Er ist im Krieg gefallen“, ergänzte sie leise und drückte den Kleinen etwas fester an sich.

      Zum ersten Mal verspürte Grace so etwas wie Bedauern für die Eastons. Was auch immer die Familie auseinandergerissen hatte, sie mussten ihren Sohn Frank geliebt haben und trauerten nun genauso um ihn wie Grace um Rose. „Das tut mir wirklich leid. Ich habe auch einen Bruder im Krieg verloren und kann ein wenig nachempfinden, was Sie gerade durchmachen.“

      „O bitte, entschuldigen Sie. Ich sitze hier und erzähle Ihnen von meinem Verlust, wo Sie offenbar dasselbe durchgemacht haben“, sagte sie beschämt.

      „Aber nicht doch. Wir sind schließlich nicht die Einzigen, Tausende haben im Krieg einen geliebten Menschen verloren. Ich bin froh, dass dieser hübsche Junge trotzdem eine Familie hat, die sich um ihn kümmert. Ein Waisenheim wäre wirklich keine schöne Alternative gewesen“, erwiderte Grace. Und ohne lange darüber nachzudenken, streckte sie einen Finger aus und berührte die seidig weiche Babyhaut. Für einen kurzen Moment streichelte sie Christian über die Bäckchen, doch dann nahm sie die Hand wieder zurück, bevor die Verführung zu groß wurde.

      „Nun, ich sollte Sie nicht weiter stören“, wandte sich Grace wieder der Frau zu und stand auf. „Ich bin froh, diesen Park hier entdeckt zu haben. Bisher bin ich immer nur durch die Straßen spaziert, dabei ist es viel schöner, durch die Grünanlage zu schlendern und Kindern beim Spielen zuzusehen.“

      „Wohnen Sie noch nicht lange in Toronto?“, fragte die junge Frau, die nun nicht mehr traurig, sondern neugierig dreinblickte.

      „Ja,