Susan Anne Mason

Ein Wagnis aus Liebe


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ich erinnere mich noch, dass Sie mir erzählt haben, Sie würden eine Arbeit suchen“, entgegnete er. Dann runzelte er plötzlich die Stirn und fragte: „Ach, wie geht es eigentlich Ihrem Fuß? Sie sind aber nicht den ganzen Weg bis hierher gelaufen, oder?“

      „Nein, den größten Teil der Strecke bin ich mit der Straßenbahn gekommen. Aber mein Fuß ist auch wieder verheilt, vielen Dank.“

      „Das freut mich“, erwiderte er mit einem ehrlichen Lächeln. „Nun, dann lassen Sie uns das Vorstellungsgespräch beginnen, wenn es Ihnen recht ist. Haben Sie ein Empfehlungsschreiben?“

      „Ja, hier“, sagte Grace und holte einen Umschlag aus ihrer Handtasche. Pastor Burke war so freundlich gewesen, trotz der Kurzfristigkeit ihrer Bitte noch ein Schreiben zu verfassen. Gott sei Dank hatte er Verständnis für Graces kleines Geheimnis gezeigt und sich darauf eingelassen, von ihr als Grace Foley zu sprechen. Sie wusste nicht, was sie sonst getan hätte.

      Andrew nahm den Brief entgegen und las.

      Grace versuchte derweil, wieder ruhig und stetig zu atmen, während sie die Tatsache verarbeitete, dass der hübsche Unbekannte von neulich Christians Onkel und Vormund war. Kein Wunder, dass er sein Auto so schnell hatte holen können, sie waren ja nur ein oder zwei Straßen von seinem Zuhause entfernt gewesen.

      „Pastor Burke spricht in den höchsten Tönen von Ihnen“, sagte Andrew im nächsten Moment und legte das Schreiben wieder weg.

      „Das ist sehr freundlich von ihm.“

      „Er lobt Ihre Arbeitsmoral und Ihren makellosen Charakter, aber … haben Sie denn Erfahrung mit Kindern?“

      Auf diese Antwort hatte Grace sich vorbereitet. „Nicht auf dem Papier. Aber in meiner Heimatgemeinde habe ich mehrere Jahre den Kindergottesdienst gestaltet. Und zudem habe ich mich häufig um die Nachbarskinder gekümmert.“

      „Und was ist mit Babys?“

      Grace zögerte. Die Stelle als Kindermädchen war eine einmalige Chance. Sie wollte ihrem kleinen Neffen endlich nahe sein, doch gleichzeitig konnte sie den Mann nicht noch mehr belügen und derlei Erfahrungen vorspielen. „Ich liebe Babys“, begann sie ihre Erklärung, „und manche der Nachbarskinder waren noch sehr klein. Auch wenn ich keine Expertin in diesem Bereich bin, kann ich sicher alles lernen. Dazu bin ich selbstverständlich bereit.“

      „Also gut“, entgegnete Andrew, nahm einen Stift in die Hand und balancierte ihn zwischen den Fingern. „Dann erzählen Sie mir doch etwas aus Ihrem bisherigen Leben.“

      „In Ordnung“, sagte Grace und begann: „Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Ort in der Nähe von Southampton. Mein Vater arbeitete bei der Werft, aber er starb schon, als ich vierzehn war. Ich hatte eigentlich vor, aufs College zu gehen, doch dann ist meine Mutter krank geworden und ich blieb zu Hause, um sie zu pflegen.“

      Grace hielt kurz inne und überlegte. Sie wollte Andrew ein wahrheitsgetreues Bild ihres Lebens in England geben, musste aber doch einige Dinge für sich behalten, insbesondere die Verbindung zu Rose.

      „Haben Sie in England gearbeitet?“

      „Ich habe ein paar Stunden die Woche im Einzelwarenladen bei uns am Ort ausgeholfen. Es kam immer darauf an, wie es meiner Mutter ging. Aber die Inhaber hatten großes Verständnis für unsere Situation.“

      „Wie zuvorkommend“, entgegnete er freundlich und spielte weiterhin mit dem Stift herum. Doch dann formte sich ein Fragezeichen in seinem Gesicht. „Und was hat Sie dazu gebracht, nach Kanada zu kommen?“

      Grace befeuchtete sich kurz die trockenen Lippen und hoffte, dass ihre einstudierte Antwort auf diese Frage überzeugend wirkte. „Größtenteils meine Mutter, sie bestand auf dieser Reise. Ich glaube, sie wollte damit all die Zeit, die ich für sie aufgebracht habe, gutmachen.“

      Und da war die Antwort auch schon ausgesprochen und nicht einmal gelogen.

      „Also geht es Ihrer Mutter inzwischen besser?“

      „Ein wenig. Sie lebt jetzt bei ihrer Schwester, das war die einzige Lösung, mit der ich einverstanden war und England verlassen konnte.“

      „Und was war Ihr eigentlicher Plan, als Sie hier angekommen sind?“

      Nun wurde Grace wieder nervös. „Ich hatte von Pastor Burke und dem Einwandererprogramm gehört, also habe ich ihn direkt aufgesucht. Man sagt, er gibt sich größte Mühe, Neuankömmlinge zu unterstützen.“

      „Das klingt nach einem guten Verbündeten“, gab Andrew zurück, legte seinen Kopf schief und spitzte die Lippen. „Wenn ich so direkt sein darf, was ist mit einem Partner? Es gibt keinen Ehemann oder einen Anwärter, den sie zurückgelassen haben?“, fragte er, während sein Blick zu Graces ringloser Hand wanderte.

      Diese Frage überraschte Grace sehr und ein wenig entrüstet antwortete sie: „Ich denke nicht, dass das hier irgendeine Rolle spielt.“

      Beschwichtigend hob Andrew die Hände. „Bitte verzeihen Sie. Ich wollte damit nicht in Ihre Privatsphäre eindringen, ich möchte nur sicherstellen, dass es keinen Grund für Sie gibt, Kanada bald wieder zu verlassen. Dass nicht irgendein Mann hier auftaucht und Sie zurück nach Hause zitiert.“

      Graces Puls raste und ihr war durchaus bewusst, wie aufgeregt sie wirken musste, also atmete sie einmal tief durch, bevor sie weitersprach. „Ich kann Ihnen versichern, dass ich völlig ungebunden bin. Es gibt auch niemanden, der einfach hierherkäme, um mich zurückzuholen.“

      Nun stieg auch Andrew Hitze ins Gesicht und er entschuldigte sich. „Ich bitte nochmals um Verzeihung, ich wollte Sie nicht in eine unangenehme Situation bringen, aber ich musste fragen.“

      Grace nickte kurz und Andrew räusperte sich.

      „Ich kann also davon ausgehen, dass Sie vorhaben, in Kanada zu bleiben?“

      Erneut zögerte sie. Was hatte sie vor? Bisher hatte Grace nicht weiter in die Zukunft gedacht als bis zu diesem Gespräch. Sollte sie die Stelle jedoch bekommen und eine Bindung zu ihrem Neffen aufbauen können, würde sie auch so lange wie nötig bleiben. „Ich hoffe es, ja.“

      „Sehr gut. Ich würde nicht zulassen, dass der Kleine sich an eine Vertrauensperson gewöhnt, nur um erneut von ihr verlassen zu werden. Nicht, nachdem er schon seine Mutter verloren hat.“

      Bei diesen Worten spiegelte sich Trauer in Andrews Gesicht wider.

      „So etwas wäre mir nie in den Sinn gekommen, Mr Easton“, sagte Grace mit fester Stimme. Gleichzeitig kämpfte sie gegen die in ihr aufkommenden Gefühle an und ergänzte: „Kinder sind ein wertvolles Geschenk, um das wir uns kümmern dürfen.“ Schließlich war das alles, was sie wollte: für ihren kleinen Neffen da sein und ihn lieben – so wie es auch Rose getan hätte.

      „Das sind sie“, erwiderte Andrew und ein Lächeln löste seine Sorgenfalten ab. „Und bitte nennen Sie mich doch Andrew. Immer, wenn mich jemand mit Mr Easton anspricht, suche ich im Raum nach meinem Vater.“

      „In Ordnung, Andrew“, gab Grace mit einem Lächeln zurück.

      Langsam entspannte sie sich, doch zugleich schämte sie sich auch ein wenig. Andrew schien ein guter Mensch zu sein. Bestimmt hätte er Verständnis für ihre Situation. Das Ehrlichste wäre, ihm die Wahrheit zu erzählen. Sie sollte dieses Lügenspiel beenden und klarstellen, dass sie Christian in guten Händen wissen wollte.

      Während sie darüber nachdachte, biss sie sich auf die Lippe und spielte mit dem Griff ihrer Handtasche.

      Aber was, wenn Andrew doch nicht so freundlich war, wie er schien? Was, wenn er in Zorn ausbräche, sobald sie ihre falschen Vorwände preisgab? Was, wenn plötzlich Mr Easton auftauchte und sie aus dem Haus schickte, bevor sie alles aufklären konnte?

      Das würde bedeuten, ihren kleinen Neffen ein für alle Mal hierzulassen und allein nach England zurückzukehren. So würde sie nie ein Teil seines Lebens werden.

      Es war einfach zu riskant. Zu viel stand auf dem Spiel. Ihr Plan war