Susan Anne Mason

Ein Wagnis aus Liebe


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auf Europa.“

      „Sie fahren nach Europa? Wie … wie schön.“ Grace musste gegen Panik ankämpfen. Würden die Eastons Toronto verlassen? Und würden sie Christian mitnehmen? „Geht Ihre Familie auf Reisen?“

      „Nein. Nur ich, ich begleite eine befreundete Familie. Es wird mir ganz schön schwerfallen, den Kleinen zurückzulassen. Er ist mir sehr ans Herz gewachsen“, erklärte sie und gab ihm noch einen Kuss auf die Wange, bevor sie ihn wieder zurück in den Kinderwagen legte. „Wir suchen gerade noch nach einer Kinderfrau, bevor ich dann weg bin“, sagte sie beiläufig und strich die Decke über den Kleinen. „Aber bisher hatten wir kein Glück. Alle Bewerberinnen waren auf die eine oder andere Weise unpassend. Meine Mutter hat sehr hohe Ansprüche, wie es scheint.“

      Auf einmal flogen Grace Tausende Gedanken durch den Kopf und ihre Hände wurden leicht schwitzig. Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe. Sollte sie etwas sagen? Aber vielleicht hielt die Frau sie dann für zu direkt. Und doch, wenn sie die Möglichkeit einfach so verstreichen ließ …

      „Tatsächlich bin ich gerade auf der Suche nach einer Arbeit“, stolperten die Worte unkontrolliert aus ihrem Mund.

      „Wirklich?“, hakte die Frau nach und schaute sie neugierig an. „Haben Sie denn Erfahrung mit Kindern?“

      „Ein wenig. In meiner Heimat habe ich mich oft um die Nachbarskinder gekümmert und jeden Sonntag den Kindergottesdienst mitgestaltet“, erwiderte sie und ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.

      „Kindergottesdienst? Also gehen Sie in die Kirche?“

      „Ja, genau. Hier in Toronto helfe ich im Moment etwas in der Holy Trinity Church aus. Pastor Burke kann mir sicherlich ein Empfehlungsschreiben mitgeben, wenn das hilfreich wäre.“

      „Ja, das wäre es in der Tat“, sagte die Frau und studierte noch für einen Moment lang Graces Gesicht. „Nun, offensichtlich lieben sie Babys, sonst wären Sie nicht herübergekommen. Könnten Sie sich auch vorstellen, als Kindermädchen mit ihm im Haus zu wohnen?“

      Grace raste der Puls. Mit Christian im selben Haus wohnen? Das hätte sie sich nicht einmal träumen lassen! Doch dann dachte sie kurz an ihr gemütliches Zimmer in der Pension und die unerwartete Freundin, die sie in Mrs C. gefunden hatte. Den gemeinsamen Tee am Abend würde sie zweifelsohne vermissen. Aber um ihrem kleinen Neffen näher zu kommen, würde sie auch das in Kauf nehmen.

      „Natürlich, das klingt geradezu perfekt“, gab sie mit ihrem schönsten Lächeln zurück und versuchte die Frau davon zu überzeugen, auch als völlige Fremde eine geeignete Kandidatin zu sein.

      „Wissen Sie, vielleicht sind Sie ja genau die Frau, die wir gesucht haben. Wie ist denn Ihr Name?“

      „Grace A…“ Grace biss sich auf die Lippe. Sie konnte unmöglich ihren Nachnamen nennen, sonst wäre ihre Verbindung zu Rose offensichtlich. Gleichzeitig aber fühlte sie sich schrecklich bei dem Gedanken, lügen zu müssen. Doch im Moment musste sie ihr Gewissen außen vor lassen. „Foley. Grace Foley.“ Das war der Ehename ihrer Tante und der erste, der ihr einfiel.

      „Foley, ist das nicht ein irischer Name?“

      „Das stimmt. In der Verwandtschaft meines Vaters gibt es Iren“, erklärte sie etwas nervös, aber anscheinend ohne aufzufallen.

      „Nun, Grace. Ich werde versuchen, ein Treffen mit meiner Mutter für Sie auszumachen. Wie können wir Sie erreichen?“

      „Am besten Sie hinterlassen eine Nachricht bei … bei Pastor Burke“, antwortete Grace. Dafür würde sie ihn wohl oder übel in ihre kleine „Namensänderung“ einweihen müssen.

      „Wunderbar. Dann rufe ich heute Abend an und nenne ihm eine Zeit und die Adresse. Und denken Sie an das Schreiben.“ Dann griff sie mit einem Lächeln nach dem Kinderwagen und schob ihn zurück auf den Weg. „Oh, ich bin übrigens Virginia Easton“, sagte sie zum Abschied.

      „Danke, Virginia“, verabschiedete sich Grace und winkte ihr noch einmal, als die junge Frau den Park verließ. Dann ließ sie sich zurück auf die Bank fallen. In der Zwischenzeit hatte sich ihr schlechtes Gewissen in den Vordergrund gekämpft und in ihrem Kopf schwirrten all die möglichen Auswirkungen dieser Lüge. Beinahe wurde ihr schlecht, so sehr graute es ihr davor, ertappt zu werden. Sie hasste es, unehrlich zu sein. Aber wenn sie Virginia ihren echten Namen verraten hätte, hätte sie niemals die Möglichkeit bekommen, die Eastons – und damit Christians Umgebung – besser kennenzulernen. Sicherlich rechtfertigten die Umstände dieses kleine Vergehen.

      Herr, ich weiß nicht, ob das gerade ein Wunder oder der größte Fehler meines Lebens war. Aber ich werde mich darauf verlassen, dass du das Beste daraus machst.

      Kapitel 7

Liebe Grace, 9. Juni 1914

       habe ich eigentlich schon erwähnt, dass Frank der Sohn des Hotelbesitzers ist, für den ich arbeite? Deshalb halten wir unsere Beziehung vorerst noch geheim. Erst kürzlich hat Frank seine Verlobung zu einer Frau gelöst, mit der sein Vater ihn verheiraten wollte. Deshalb warten wir noch eine Weile, bis wir ihm von uns erzählen. Frank fürchtet, dass es Auswirkungen auf meine Anstellung haben könnte. Er ist ja so mitdenkend!

      Einen Moment blieb Andrew vor dem Büro seines Vaters stehen und wartete, bis er nicht mehr so genervt war. Paul Edison hatte ihn zu einem ungeplanten Treffen gerufen, was seinen Terminplan für den heutigen Tag ganz schön durcheinanderbrachte. Eigentlich hatte Andrew gehofft, schnell mit seinen Aufgaben fertig zu werden und dann etwas früher nach Hause gehen zu können. Beim Gespräch mit einem potenziellen Kindermädchen heute Nachmittag wollte er gern dabei sein, aber diese unerwartete Unterredung bedeutete wahrscheinlich das Aus für seinen Plan.

      Was hatte Edison sich wohl dieses Mal ausgedacht? Aller Wahrscheinlichkeit nach etwas, das Andrew vor seinem Vater bloßstellte. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, rückte seine Brille zurecht und trat ins Büro.

      Sein Vater und Edison waren bereits da und Edison saß so selbstsicher auf dem Stuhl, als gehörte das Hotel bereits ihm. Mit seinen nach hinten gegelten blonden Haaren und den hellblauen Augen war er ein gefährlicher Gegner: hübsch genug, um den Frauen den Kopf zu verdrehen, und clever genug, um auch die Männer auf seine Seite zu ziehen.

      „Andrew, komm doch herein. Paul und ich haben gerade über einen Vorschlag gesprochen und hätten gerne deine Meinung dazu.“

      Pauls arroganter Blick holte schlechte Erinnerungen an Frank hoch. Er war immer Vaters Goldjunge gewesen, sein ganzer Stolz. Der, der nie einen Fehler gemacht hatte.

      „Warum hast du nur so wenig von deinem Bruder?“, hatte ihm sein Vater früher häufig vorgeworfen. „Wenn du dich mit Kunden unterhältst, musst du ihnen das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein. Beobachte Frank und tu es ihm gleich.“

      Sein Vater hatte nie verstanden, dass Andrew einfach nicht so gesellig war wie Frank. Während Frank sich stets danach sehnte, im Mittelpunkt zu stehen, bevorzugte es Andrew, im Hintergrund zu bleiben; am liebsten arbeitete er diskret und unauffällig. Und sosehr Franks Abkehr von der Familie ihn auch verletzt hatte, etwas Gutes hatte sie auch: Wenigstens wurde Andrew so nicht länger mit ihm verglichen und für weniger gut befunden. Naiverweise hatte Andrew gedacht, die Aufmerksamkeit seines Vaters galt nun ihm. Endlich sah er die Chance, seine Anerkennung zu gewinnen – doch diese Illusion zerbarst in dem Moment, als Paul zum Juniormanager ernannt wurde.

      Mit diesem Gedanken im Kopf setzte sich Andrew. „Worum geht’s?“, fragte er knapp und hoffte nur, dass es sich nicht als eine kostspielige Investition herausstellte.

      „Das lasse ich besser Paul erklären“, entgegnete ihm sein Vater, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und faltete erwartungsvoll die Hände vor dem Bauch.

      Paul stand auf und strich sein Jackett glatt, als bereite er sich auf eine große Rede vor. „Folgendes ist unsere Idee: