Ralf Mühe

Wie das Leben so schräg spielt


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gab ich eine Bedienungsanleitung, und zwar so einleuchtend, dass sie auch der größte Trottel begreifen musste. Nur einer eben nicht: ich selbst. Meine Worte waren kaum verhallt, da griff ich tatkräftig zu. Aber entgegen meiner eigenen klüglichen Anweisungen eben falsch! Und das vor einem Publikum, das sich kaum noch auf den Stühlen halten konnte. Wie gemein Leute aber auch sein können!

      Das Buch mit diesem aggressiven Titel lag wie eine Kampfansage auf dem Schreibtisch einer Mitarbeiterin. „Hast du schon gesehen ...?“ In der Art, wie mein Kollege die Frage stellte, wusste ich schon, wovon er sprach. „Ich habe“, fiel ich ihm kurzsilbig ins Wort und warf bedeutungsvoll einen Blick auf die „Waffe“. Wir waren ratlos. Gut, auf Händen getragen hatten wir die Kollegin nie, das war uns schon klar. Aber hatten wir ihr so zugesetzt, dass sie sich gegen uns wehren musste? Ich äußerte die Vermutung, dass ihr vielleicht unsere männliche Dominanz zum Problem geworden sei.

      Unsere Gemüter beruhigten sich wieder. Dennoch beschloss ich, ab sofort meine Naivität aufzugeben und psychologischen Scharfsinn an den Tag zu legen. Ich brauchte nicht lange, um fündig zu werden. Eine Mitarbeiterin, schlank wie eine Tanne, hatte einen äußerst festen Schritt: Na klar, jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen, das musste Körpersprache sein. Warnsignale sozusagen, die ich bisher nicht wahrgenommen hatte: „Pass auf, hier komme ich!“ oder so. Bei einer anderen Person entdeckte ich eine fast apokalyptisch anmutende Wehrhaftigkeit: Als Knoblauch-Esser konnte sie sich allein mit dem Hauch ihres Mundes verteidigen. Je länger, desto klarer sah ich die Dinge: Da war jemand, dessen Worte wie Maschinengewehrsalven Schutz vor dem Hinhören gaben. Hatte man ihn vielleicht in zarter Jugend allzu hart getadelt? Neue Dimensionen der Menschenkenntnis eröffneten sich.

      Als ich in einem Buchkatalog blätterte, fiel mir sofort jener Titel ins Auge: „Sag, was du meinst, dann erreichst du, was du willst. – Wie man sich erfolgreich durchsetzt.“ Ich grübelte. Sollte ich an meiner eigenen Persönlichkeit arbeiten und aufrüsten? Der Blick auf den Umfang des Buches ließ mich zögern. Vielleicht sollte ich mich doch eher den Tugenden des Pazifismus zuwenden, denn zum Nachgeben hatte ich ja nach langen Ehejahren im Übermaß Gelegenheit.

      Es kam alles ganz anders. Ich hatte völlig vergessen, dass ich mein Herz künftig nicht mehr so auf der Zunge tragen wollte. Ich sprach mit der Kollegin über jenes besagte Buch und seine Wirkung. Dabei stellte sich heraus, dass es gar nicht für sie persönlich gewesen war. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich konnte also (im Wesentlichen) so bleiben, wie ich war. Angesichts dieser Tatsache fiel es mir jetzt nicht mehr schwer, die anderen mit ihren Eigenheiten zu akzeptieren. Vielleicht waren deren Verhaltensweisen gar nicht gegen mich gerichtet, sondern einfach Ausdruck ihrer persönlichen Prägung. Ganz ausschließen sollte man das nicht.

      Es gibt sie zum Glück, denn ihr Vorhandensein gibt dem Rest der Menschheit das Gefühl einer gewissen Überlegenheit. Ein paar Beispiele gefällig? Es würde mich freuen, wenn ich Sie davon überzeugen könnte, dass meine Behauptung vom Leben selbst diktiert ist.

      Fall 1: Da sah ich doch in einem Hotel einen jungen Mann, der sich als unverbesserlicher Hartschädel erwies. Leicht bis mittelschwer angesäuselt suchte er den Weg ins Freie. Zielstrebig knallte er mit der Stirn gegen einen Flügel der Glastür, deren Automatik mit seiner Schnelligkeit nicht mitkam. Peng! Das Glas war zwar dahin, aber die Tür tat sich dennoch auf. Der Mann trat ins Freie. Er ging zwei Schritte zur Seite und sog die frische Luft ein. Aber nicht lange. Offenbar meldete sein Gehirn erst jetzt den Crash und ließ ihn in Ohnmacht fallen. Wie ein Stein fiel er zurück und durchschlug mit dem Hinterkopf den anderen Teil der Glastür. Sauber. Das war ganze Arbeit. Der Mann selbst hatte außer ein paar Kratzspuren nichts abbekommen. Habe ich zu viel gesagt? Weiter geht’s.

      Fall 2: Eigentlich wollte die Putzfrau im Geschäft meines Onkels nur die Kellerwände mit Wasser abspritzen. Als sie jedoch eine Maus erblickte, schreckte sie zurück. Der Wasserstrahl traf die heiße Glühbirne, es gab einen Schlag und dunkel ward es. Für eine Weile hörte man nur das Wasser und die Putzfrau laufen. Sie ertastete sich den Weg aus dem Kellerraum, vergaß jedoch, den Wasserhahn abzustellen. Man hätte später den Kellerraum als Swimmingpool vermieten können.

      Fall 3: Er betrifft leider meine Wenigkeit. Ich hatte unseren Kleinbus auf einem Parkplatz abgestellt. Nicht exakt genug an der aufgezeichneten Linie entlang, wie ich fand. Eine kleine Korrektur gestand ich mir zu. Ich versuchte sie, ohne dabei den Motor anlassen zu müssen. Mit dem linken Fuß blieb ich auf der Straße, mit dem rechten trat ich die Kupplung, und der Wagen rollte, bis – o nein ... Ich brauchte eine ganze Weile, um meinen Sohn von dem Kunststück zu überzeugen, dass ich mir selbst auf den Fuß gefahren war! Er glaubte es nur, weil ich wie festgewurzelt am Wagen stehen blieb. Physische Schäden hat mir das Ganze nicht eingebracht. Aber psychische, denn jedes Mal, wenn das Thema „Nichts ist unmöglich!“ aufkommt, glaubt mein Sohn, einen süffisanten Beitrag aus seiner eigenen Erlebniswelt leisten zu müssen.

      Die Bibel ist wirklich ein wertvolles Buch. Besonders dann, wenn sie noch nach Jahren wie neu im Regal steht und der Goldschnitt noch nicht gelöst ist. Dann haben auch die Kinder und Enkel noch etwas davon.

      Es gibt in dieser Hinsicht natürlich unterschiedliche Ansichten. Ich denke an jene resolute Frau, die mir schmeichelte, indem sie mich einmal in den Stand eines Theologen erhob. Sie las recht oft in der Bibel. Dabei bevorzugte sie das, was „zwischen den Zeilen“ stand. Natürlich entdeckte sie auf diese Weise einen Reichtum an unausgesprochenen Wahrheiten. Darauf waren andere Christen in knapp zwei Jahrtausenden nicht gestoßen. Meine Auslegungen über das, was schwarz auf weiß in der Bibel steht, nahmen sich neben ihren Erkenntnissen geradezu dürftig aus. Aber die Frau gestand mir immerhin zu, ein Westentaschentheologe zu sein.

      Bibelkenntnis gehört zum Allgemeinwissen. Man muss das Buch der Bücher noch nicht einmal gelesen haben, um Bescheid zu wissen. Diesen Eindruck vermittelte mir jedenfalls ein älterer Diskussionspartner, dessen Lautstärke und Selbstsicherheit klarstellte, wer hier recht hatte. Er zitierte aus dem Gedächtnis (!) grundlegende Wahrheiten aus den Mosebriefen und dem Evangelium nach Petrus. Als ich ihm meine Bibel reichte, damit er seine Nachhilfestunde effektiver gestalten könnte, wollte er sich damit nicht aufhalten. Schade eigentlich.

      Ich hatte schon immer vor den Leuten Hochachtung, die die Grundsprachen der Bibel fließend beherrschen. Eine Kostprobe seines Könnens gab mir ein Pastor, der das hebräische Alte Testament aufschlug. Ohne lange zu fackeln fing er an, 1. Mose 1, Vers 1 flüssig zu übersetzen: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott ...“ Beneidenswert, ein Naturtalent!

      In eine ziemliche Verlegenheit brachte mich die Frage eines Gemeindeältesten. „Wie kann es möglich sein“, wollte er von mir wissen, „dass der König Jesus verfolgen und die Kinder in Bethlehem töten ließ, wo er doch zuvor den wunderbaren Auszug des Volkes durch das Rote Meer miterlebt hatte?“ Ich musste mehrfach schlucken. Es war in der Tat eine schwierige Frage.

      Als einer, der sich lieber Positivem widmet, eigne ich mich vermutlich am wenigsten dazu, zum Thema vergeben etwas zu schreiben. Ich vermute, dass ich darüber hinaus oft zu naiv bin, um zu verstehen, dass ich eine Aussage auch als Kränkung hätte auffassen können. Ich bin einfach nicht der Typ, der einen hohen Umschlag von Verletzungen und Vergebung aufzuweisen hat. Immerhin bin ich im Vergessen groß. Das trifft meist auch auf negative Kleinigkeiten zu. Vermutlich beraube ich mich damit der Fähigkeit, wesentlich hingebungsvoller über die Lasten des Lebens klagen zu können.

      Ganz anders verhielt es sich diesbezüglich mit einem älteren Herrn, dessen Würde sich an einem bedeutungsvollen Notizbuch festmachte. Er hatte nämlich eine Methode wider das Vergessen entwickelt. Markante Aussagen notierte er sofort in ein Heft. Offenbar war ich so einer, bei dem sich Aufzeichnungen lohnten. Manchmal musste ich schnell dahingeworfene Aussagen Wort für Wort wiederholen, damit er mit dem Schreiben nachkam. Dabei spielte stets ein Lächeln um seine Lippen. Sicher rechnete er schon