Frau. Mit gnadenloser Offenheit bekannte sie mir: „Vergib mir, dass ich dich oft für arrogant halte.“ War ihr Verlangen nach einem reinen Gewissen nicht beispielhaft? Augenblicklich taten sich Abgründe bei mir auf. Dummerweise sah ich mich jedoch nicht in der Lage, die Gefühle der Frau zu vergeben. Vielleicht waren sie ja berechtigt und stellten gar keine Schuld dar. Da sie aber so sehr nach Vergebung verlangte, sprach ich ihr – sozusagen als Ersatz – meine Vergebung für ihre unangebrachte Schwatzhaftigkeit zu. Damit war sie allerdings auch nicht zufrieden. Komplizierte Welt!
Können Sie sich selbst verzeihen? Auch das ist ein Lernprozess. Als Bibelschüler erlaubte ich mir einmal ausgerechnet im Fahrstuhl einen Druckausgleich des Leibes. Ich war ja allein. Doch die augenblickliche Veränderung der Luftverhältnisse in diesem engen Raum war über alles Erwarten fulminant. Gerade jetzt stoppte der Fahrstuhl und eine würdige ältere Lehrerin gesellte sich zu mir. Ziemlich irritiert sog sie die Luft ein, sagte aber nichts. Ich versuchte eine Unschuldsmiene aufzusetzen und fächerte mir Luft zu. Ansonsten wäre ich gern im Boden versunken. Verziehen habe ich mir diese Fehlleistung lange nicht.
Beziehungen
Meine erste Beziehung habe in den Sand gesetzt. Damals, in jenem Alter, als ich noch aus Protest gegen das Spießbürgertum die Absicht hatte, Weihnachten im Sommer zu feiern und bei Feierlichkeiten mit verschlissenen Jeans neue Akzente zu setzen. Wie borniert war ich doch, als ich auf die Frage eines Mädchens, ob sie mit mir gehen dürfe, antwortete: „Selbstverständlich! Bis da vorne zur Straßenkreuzung – und dann trennen sich unsere Wege.“
Ein solcher Glücksfall hat sich nie wiederholt. Nie, wirklich nie wieder hat eine Frau mir je einen solchen Antrag gemacht. Im Gegenteil. Um meine Ehefrau musste ich regelrecht kämpfen. Erst gegen ihren eigenen erklärten Willen, dann gegen die (berechtigten?) Bedenken meiner zukünftigen Schwiegermutter. Es war nicht leicht. Aber ich habe es offenbar nicht besser verdient. Inzwischen hat unsere Beziehung immerhin schon 40 Jahre gehalten. Diese stabile Basis hat es uns erlaubt, freundschaftliche Beziehungen zu anderen Leuten einzugehen. Und auch verunglückte so zu überstehen, dass wir später nicht auf die Psychiatercouch mussten.
Sehr flüchtig, aber nicht weniger eindrücklich gestaltete sich jene Beziehung, bei der ich jemandem grüßend zuwinkte, weil ich ihn verwechselte. Ob der sofortige Versuch gelang, das Winken als Serie nervöser Zuckungen zu kaschieren, kann ich nicht sagen.
Eine freundschaftliche Beziehung entwickelte sich, als ich jemandem aus Versehen den Parkplatz wegnahm. Ich hörte nicht, was mein Gegenüber sagte, aber ich sah deutlich an der Mundbewegung, dass es sich nicht um eine Schmeichelei handelte. Ich korrigierte meinen Fehler und ging dann auf den Kontrahenten zu: „Wie gut, dass Sie nicht ausgerastet sind“, sagte ich, „weniger Beherrschte hätten mich sicher ein A... geschimpft.“ Der Mann erstarrte wie ein Ertappter, dann lächelte er. Seither grüßt er mich sehr zuvorkommend.
Die Schule des Lebens hat mich gelehrt, über Kleinigkeiten hinwegzusehen, auch wenn sie wesentlich sind. Es war in einem Hallenbad. Auf der Suche nach einer Umkleidekabine stieß ich eine Tür auf, hinter der eine Frau im Evaskostüm stand. „O Entschuldigung, mein Herr“, sagte ich – so wie ich es gelernt hatte – und schlüpfte in die nächste Kabine. Zufrieden hörte ich ein unterdrücktes Lachen von nebenan. Der Trick hatte funktioniert. Dennoch zog ich es vor, mich vorerst nicht im Schwimmbecken sehen zu lassen.
Bekehrungskampfsportler
Sein Eifer ehrte ihn. Nicht jedoch die Art und Weise, wie er versuchte, andere und mich zu bekehren. Es war bei einer Großveranstaltung, bei der sich Missionswerke präsentierten. Ich nahm als Mitarbeiter des Bibellesebundes daran teil. Bei einem Gang durch die Ausstellungshallen entsprach mein Blick wohl nicht der Norm wahrer christlicher Demut. Ein Mann schien mich für einen verlorenen Sünder zu halten und nahm sich ohne Zögern meines Heils an. Seine Worte peitschten wie Maschinengewehrsalven an meine Ohren. Lediglich die Notwendigkeit, dass auch jener Eiferer Luft zum Atmen holen musste, gab mir Gelegenheit einzuwerfen: „Aber ich bin doch schon ...“ Ich hätte „ein bekehrter und wiedergeborener Christ“, gesagt, wenn jener Kämpfer mich wenigstens hätte ausreden lassen. „Viele denken, sie seien Christen ...“, schmetterte er mich ab. „Ich stimmte ihm (durch Kopfnicken!) zwar grundsätzlich zu, wollte aber dennoch klarstellen, dass ich ... Keine Chance. Erneut holte er zu verbalen Attacken aus. Dabei verschärfte er den Ton. Da half nur eines: Ich knallte das Neue Testament auf den Tisch, das er mir gerade gönnerhaft als Geschenk in die Hand gedrückt hatte, und ließ ihn stehen. Mein Verhalten musste ihn schmerzlich davon überzeugt haben, dass die Endzeit hereingebrochen war, in der keine Buße mehr geschieht.
Für mich hatte dieses Erlebnis eine heilende Wirkung. Ich wurde an meine eigene Unvernunft der frühen Jahre erinnert ...
Es war in der Schweiz, als ich einen Anhalter in meinen Wagen mitnahm. Damals hatte ich noch einen Fahrstil, der meine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod eindrucksvoll unterstrich (1. Petrus 3,15). Ich erkannte sofort, dass der Herr mir den jungen Mann in die Hände gegeben hatte. Nun galt es, Salz der Erde zu sein (Matthäus 5,13) und das fade Namenschristentum mit der Kraft des Evangeliums zu würzen (Kolosser 4,6). Ohne Umschweife kaufte ich die Zeit aus (Epheser 5,16). Schließlich wollte ich nicht dafür verantwortlich sein, wenn er verloren ging (Hesekiel 3,18). Als einer, der selbst vor harschen Wahrheiten nicht zurückschreckt, ließ ich das meinen Beifahrer auch deutlich wissen. Als er schließlich wie betäubt ausstieg, hatte ich mich vermutlich gerichtsreif evangelisiert. Damals glaubte ich jedoch, den guten Kampf gekämpft zu haben, der mir aufgetragen war (2. Timotheus 4,7). Wie gut, dass Gott sich auch über geistliche K.-o.-Schläger erbarmt, denn auch sie wissen nicht immer, was sie tun.
Der Herr des Zorns
Da kenne ich jemand, der als Negativbeispiel geradezu brilliert. Nennen wir ihn mal „M“, um ihn nicht bloßzustellen. Er ist ein Meister darin, seinen Zorn zu beherrschen. Wenn andere ihm allzu forsch kommen, bleibt ihm nämlich die Spucke weg. Selbst an schlagende Gegenargumente erinnert er sich in solchen Situationen nicht mehr. Er wirkt dann nach außen hin so wunderbar friedlich. Ja, es scheint geradezu, als beseelte ihn eine heilige Gelassenheit. Aber in Wirklichkeit kocht es in ihm. Er ist nur nicht fähig, punktgenau den Dampf abzulassen. Erst zu Hause ändert sich das. Etwa wenn seine Frau ihn mit unüberhörbarem Vorwurf fragt: „Warum hast du dieses oder jenes nicht gesagt?“ Es ist ihm eben nicht eingefallen! Warum, warum nur hatte er sich an eben dieses Argument nicht erinnert? Das Gehirn war wie umnebelt. Was er öffentlich versäumt hat, holt er in privaten Scheingefechten nach – Argument und Gegenargument. Bis tief in die schlaflose Nacht.
Es hat „M“ beileibe nicht an Vorbildern gefehlt. Voller Staunen hatte er schon erlebt, wie eine Kollegin loslegte, wenn sie wütend wurde: mit einer Wortflut, die schon fast den Tatbestand der Körperverletzung erfüllte, und mit Argumenten, deren bizarre Logik seiner spröden Fantasie vermutlich für immer verschlossen bleiben wird. Wie einsilbig fühlte er sich jeweils, wenn er aufgefordert wurde: „Jetzt sag du doch auch mal etwas!“ Was sollte er noch hinzufügen? Es war weit mehr als alles gesagt.
Wenn „M“ im Zorn schweigt, erntet er Kritik. Redet er, ergeht es ihm auch nicht besser, denn dummerweise greift er in der höchsten Bewegung seines Gemütes oft zu wahllos in die Armut seines Wortschatzes. Dabei kommen dann Worte zutage, die zu scharf, zu derb oder beleidigend sind. Wie demütigend, wenn er später auf diese Art gewonnene Wortgefechte durch eine schnöde Entschuldigung wieder annullieren muss!
Wen wundert’s, dass er da die hohen Weihen eines Zeitgenossen nur mit gewissem Neid bestaunt! Wo andere heftig reagieren, gereicht es bei jenem nur zu tiefer Traurigkeit. Dieser Seelenzustand war in der Vergangenheit allerdings stets mit dem akuten Bedürfnis verbunden, sie auch möglichst weit zu streuen. „M“s Chef erhielt stets auch eine Trauerbekundung, wenn „M“ sich wieder mal verfehlt hat. Man hat gehört, dass „M“ inzwischen geflüchtet sei – zum Sarkasmus, dem kleinen Bruder des Zorns. Hoffentlich eckt er damit nicht auch so an.
„Fragen, vom Leben selbst gestellt“
Offene Fragen