Ralf Mühe

Wie das Leben so schräg spielt


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scheint sie – trotz gegenteiliger Behauptung – doch zu geben: die ausgesprochen dummen Fragen. Nur allzu gut erinnere ich mich, wie ich im zarten Alter von 10 Jahren unseren Kaplan aus der Fassung brachte. Dabei wollte ich lediglich wissen, ob der Papst nun evangelischen oder katholischen Glaubens sei. Eine klare Antwort bekam ich auch damals nicht. Ich vermutete deshalb, dass meine Frage allzu persönlich gewesen sein musste.

      Es gibt aber auch Fragen, die benötigen gar keine Antwort. Als zum Beispiel mein Kollege H. die Telefonnummer eines Kunden in die Rechenmaschine tippte, wunderte er sich, dass die Verbindung nicht zustande kam. Der gleiche Herr trug auch schon mal einen Aktenordner in die Speisekammer. Die Frage, was er dort damit wollte, ließ er einfach offen.

      Ob man mit offenen Augen beten oder sie schließen sollte, hat mir völlig undogmatisch das Leben selbst beantwortet. Beim gemeinsamen Essen in der Mensa verschwanden einst immer wieder mal auf wundersame Weise meine Fleischportionen, während ich betete. Es war die Hand des Herrn, die ich schließlich mit offenen Augen erspähte – die des Herrn W. zu meiner Rechten. Andererseits wäre ich nie Zeuge geworden, wie sich einmal ein recht prachtvolles Exemplar von Spinne über einem Beter abseilte, wenn ich wie er die Augen geschlossen gehalten hätte.

      Manche Fragen haben eher experimentellen Charakter. Etwa die, was passiert, wenn man gegen einen Elektrozaun uriniert. Niemand musste dafür je Worte verschwenden: der Tanz des Mannes war höchst eindrucksvoll und Antwort genug. Auch auf die Frage, wie sich ein Hamster im Käfig anfühlt, fand ich mit einem perforierten Finger früh eine Antwort.

      Die Frage, ob die Schwerkraft noch funktioniert, hatte ich nicht gestellt, und doch wusste ich die Antwort, als ich bei einem Sturz unsanft den Asphalt küsste.

      Diese wenigen Beispiele sollten genügen, um uns davon abzuhalten, Sklaven unserer menschlichen Neugierde zu werden. Wie oft meinen wir, mit unbeantworteten Fragen nicht leben zu können. „Gott wird geehrt für das, was er verborgen hält“ (Sprüche 25,2).

      O ja! In Offenbarung 21 werden Dinge genannt, die einmal nicht mehr sein werden. Und darin liegt ein tiefer Trost. Ich könnte die Liste dessen, was nicht mehr sein wird, um einiges verlängern, was irdisch und damit unvollkommen ist.

      Ich denke da an einen Kollegen. Als er an der Ampel anhielt, beobachtete er staunend, wie er von der Radkappe des eigenen Wagens überholt wurde. Das Ding rollte in elegantem Bogen auf die Kreuzung zu und dann war Ende der Vorstellung. Ein Lastwagen machte sie platt.

      Ein anderes Beispiel irdischen Jammers bot unsere Putzfrau. Im Eifer ihrer Tätigkeit stieß sie einen Kaktus vom Tisch und fing ihn auch gleich auf – mit bloßen Händen. Sie fackelte nicht lange und versuchte, die Stacheln zu ziehen – mit den Lippen! Ziemlich bald wurde ihr klar, dass sie nur noch stichelnd reden konnte. Die Bemerkungen des Arztes beim anschließenden Geduldsspiel waren nicht weniger spitz.

      Voller Mitgefühl denke ich an den 8-jährigen „R“. Er war nie ein Held, aber durch und durch Selbstdarsteller. Als er bemerkte, dass eine ältere Frau am Fenster lehnte und ihm beim Rollerfahren zuschaute, schlug seine Stunde. Er übte plötzlich Kunststücke. Immer wieder vergewisserte er sich, dass er in ihrem Blickfeld blieb. Da schlang er ein Bein über den Lenker. Gar nicht übel. Aber nun sollte die Krönung folgen: das zweite Bein auch über den Lenker. Die Frau sollte das Schaustück so schnell nicht vergessen – er vergaß es nie! Schneller als er denken konnte näherte er sich dem Asphalt. Er küsste ihn mit einer Heftigkeit, dass der Boden rot wurde. Noch heute trägt „R“ eine kleine Narbe, um der eitlen Ruhmsucht willen. Aber auch das wird nicht mehr sein.

      Es war auf den letzten Metern zu einer Gemeinde. Vor mir lief eine Frau mit knielangem Rock. Irgendwie hatte der Wind es an diesem Morgen eiliger als wir. Er packte kräftig in unsere Rücken, und unvermittelt wusste ich, was ein Wickelrock ist: ein Kleidungsstück, das sich bis in Gesichtshöhe erheben und einen Schleier vor Augen bilden kann. Allerdings waren es nicht meine Augen, die solcherart gehalten waren. Im Himmel wird es so etwas nicht mehr geben. Da werden Frauen keine Röcke mehr tragen, sondern biblische Gewänder – denke ich zumindest.

      Nicht jeder hat das Vorrecht, sein Eis an einem Kiosk kaufen zu können, wo es weit und breit die größten Portionen gibt. Ich gehörte mit meiner Familie während eines Aufenthaltes an der Küste zu den Glücklichen. Allerdings waren wir nicht allein. Es gab dort eine drangvolle Enge in der Menge von Leichtbeschürzten. Mir dämmerte, was es heißt, Berührungsängste zu bekommen.

      Die nahe Umgebung war ein einziger Werbeträger. Waffelstücke und dahinschmelzende Eisreste, wohin das Auge blickte. Dazwischen selbstvergessene Genießer.

      Als wir uns bis zum Überdruss die Kalorien auf die Problemzonen leckten, kam der eigentliche Unterhaltungswert der Eiszeit. Ein etwas ungelenker Junge im Alter von etwa acht Jahren, nennen wir ihn mal Michael, weckte unsere Aufmerksamkeit. Er hielt – nein er stemmte – gleich zwei gigantische Eisportionen in den Händen. Während er seinen Weg an Badematten, Luftmatratzen und Strandmuscheln vorbei suchte, bahnte sich das Unglück schon an, denn nicht nur er lief, sondern auch das Eis zur Linken und zur Rechten. Auch Michael XXL schien die zunehmende Unsicherheit des Kleinen zu bemerken. Er gab hilfreiche Anweisungen, wie: „Halt das Eis gerade!” oder „Schau, wo du hinläufst!” ohne dabei selbst seine nicht geringe Leibesfülle aus der Horizontalen zu bewegen. Der Junge strauchelte und fing sich. Hielt mal das eine, dann das andere Eis zu schräg. Fuhr mal hastig links, dann mal rechts mit der Zunge über Finger und Handgelenke. Die Handlung spitzte sich zu. Und eine Wolke von Zeugen hing mit den Augen wie gebannt auf dem tapferen Akteur. Der Junge änderte seine Taktik. Er wollte schneller sein als das Eis und verfiel in einen tänzelnden Laufschritt. Aber ach! Etwa zwei Meter vor dem Ziel erwischte es ihn eiskalt: Er stolperte und die beiden Waffeltüten folgten unbarmherzig dem Weg der Schwerkraft. Fast zeitgleich war Michael XXL auf den Beinen. Zu spät: Das Eis war buchstäblich in den Sand gesetzt. Ein vielleicht hundertfaches „Oh!” bezeugte eine allumfassende Anteilnahme und übertönte das jämmerliche Geschrei des Jungen. Es waren herrliche Portionen, die da so gut wie unbeleckt einfach wegschmolzen. Doch die finanzielle Ausgabe hatte sich dennoch gelohnt. Wo sonst hätte man für diesen Betrag eine derart große Zuschauermenge in Spannung halten können? Eiszeiten können durchaus unterhaltsam sein, finde ich.

      Wie oft habe ich mir gewünscht, im Turbo-Gang neu zu werden. Gern würde ich am Abend als ungeduldiger Mensch zu Bett gehen, um den nächsten Tag langmütig und mit bewundernswerter Demut zu beginnen. Ansätze dazu reichten meist nur bis auf den Weg zur Arbeit: „Warum fährt die da vorn nicht los? Worauf wartet sie eigentlich noch? Da wär ich schon dreimal rübergekommen ...“ Gleich darauf presche ich um so rasanter über die Kreuzung. Ein entsprechender Kommentar von der liebsten aller Ehefrauen zwingt mich zur aufgebrachten Rechtfertigung. Die Bemerkungen der Tochter auf dem Rücksitz ignoriere ich einfach. In ihrem Alter weiß sie doch immer alles besser!

      Drehzahlmesser und Puls sind bereits deutlich erhöht. Doch schon kommt die nächste Prüfung. Vor mir kriecht jemand aus einer Seitenstraße mit seinem garagengepflegten Wagen auf meine Spur. Parkende Autos umfährt er grundsätzlich mit Blinken, natürlich nicht, ohne zuvor ängstlich abgebremst zu haben. Er fürchtet wohl, der Fahrtwind reißt ihm die Außenspiegel ab. Immer wieder keimt in mir die Hoffnung auf, der Kerl könnte abbiegen und die Straße freigeben. Aber nein, er bummelt über einige Kilometer provozierend knapp vor meiner Stoßstange her. Der Weg, den ich normalerweise in friedvoller Ausgeglichenheit dahingleite, wird zur endlosen Teststrecke für meine alte Natur. Beim Überholen zuckt es mich in den Armen. Aber nein, das, was in mir neu geworden ist, gewinnt gerade noch die Oberhand. Ich belasse es bei abschätzigen Blicken für den Fahrer. Im Übrigen registriere ich befriedigt, wie beherrscht ich doch geworden bin ...

      Umgestaltungsprozesse gehen wohl grundsätzlich nicht ohne Prüfungen ab. Einst im Frühjahr wurde die Außenwand der Bibellesebund-Zentrale mit einem Hochdruckreiniger bearbeitet. Just überkam einer Kollegin ein kühler Schauer – denn es gab eine undichte Stelle! Aber es war ein Leiden