Georg Markus

Die Hörbigers


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erinnerte sich Attila, »und wurde mir zum Vorbild. Insgeheim hatte ich das Gefühl, ich werd’s auch einmal schaffen. Und der Paul sagte zu mir: ›Lass dir Zeit, Kleiner, es wird alles noch kommen.‹ «

      Von selbst, das spürte Attila instinktiv, würde nichts kommen, man müsste dem Schicksal ein bisschen nachhelfen. Und da erinnerte er sich an Alfred Martinz, den einstigen Nachbarn, der auf der Schönbrunner Straße Sprech- und Stimmunterricht erteilt hatte. Die nächsten Theaterferien reichten, um nach Pola zu fahren und dort ein paar Stunden zu nehmen. Und seine Tochter Consuelo wieder zu sehen.

      Zur Sprechausbildung durch den künftigen Schwiegervater kam noch das Glück hinzu, dass man Paul mittlerweile nach Prag gerufen hatte. Das war der Grund, warum Attila im Herbst 1922 nach Reichenberg geholt wurde – um die Lücke zu schließen, die sein Bruder am dortigen Stadttheater hinterlassen hatte. Er übernahm von ihm, wie Paul es auszudrücken pflegte, »das Fach der guten Rollen«.

      Rudolf Beer, der Theaterprofi, hatte natürlich Recht gehabt: Die Vielfalt der Rollen, mit denen man in einer Saison an deutschböhmischen Provinzbühnen konfrontiert wurde, waren die beste Schule für einen jungen Schauspieler. Attila, nun zumindest mit den Grundbegriffen der Sprechtechnik vertraut, wurde in Reichenberg zum gesuchten Nachfolger, die beiden Brüder glichen einander sowohl äußerlich als auch in der Melodie der Sprache und in ihrer Art sich zu bewegen. Attila half das zweifellos, um vom Reichenberger Publikum auf Anhieb akzeptiert zu werden.

      Die Ähnlichkeit der Brüder führte allerdings auch zu skurrilen Szenen: Eines Tages erschien eine ältere, beleibte Dame in Attilas Wohnung in Reichenberg, die er ebenso von seinem Bruder übernommen hatte wie die schönen Rollen. »Also, Herr Heerbinger«, herrschte ihn die resolute Frau gleich an der Türe an, »was is eigentlich mit der Mitzi? Haben S’ jetzt ernste Absichten oder net?«

      »Pardon, gnädige Frau, ich kenne keine Mitzi.«

      »Jetzt wollen Sie alles leugnen? Sie glauben, Sie können meine Tochter zuerst narrisch machen und kompromittieren, und jetzt auf einmal wollen S’ von nix was wissen …«

      Es sei ihm nur mit allergrößter Mühe gelungen, die Dame davon zu überzeugen, dass er erst seit wenigen Tagen in Reichenberg logierte, um am Theater die Nachfolge seines Bruders anzutreten. »Es war«, erinnerte er sich lächelnd, »eine der schwierigsten Szenen, die ich je zu spielen hatte.«

      Paul und Attila hatten einander diesbezüglich wenig vorzuwerfen. Beide sahen gut aus, hatten Charme und Witz und erfreuten sich großer Beliebtheit bei den Kolleginnen im Schauspiel, im Chor, im Ballett und auch in den Reihen des Publikums. Und beide machten reichlich Gebrauch davon.

      Wie sein älterer Bruder spielte Attila jetzt alles in Reichenberg, in einer Saison insgesamt 37 Rollen: vom Liebhaber bis zum Betrüger, vom Lustspiel bis zum Klassiker, wobei sein Wilhelm Tell im Lokalblatt als »warm, gütig und doch voll verschlossener Kraft« gelobt wurde.

      Paul war schon einen Schritt weiter. Prag zählte zur »gehobenen Provinz«, und Leopold Kramer vertraute ihm Rollen in Richard III., in Roda Rodas Feldherrnhügel und auch den Leopold im Weißen Rössl an; Paul Hörbigers Glanzrolle aber war der Liliom in Molnárs gleichnamiger Vorstadtlegende.

      Eines Tages eskalierte jedoch ein Streit mit dem Direktor, sodass dieser keinen anderen Ausweg sah als den jungen Mimen durch den Entzug seiner Glanzrolle zu bestrafen. Nicht genug damit, holte Kramer an Pauls Stelle den großen Max Pallenberg aus Berlin, was Hörbiger zutiefst enttäuschte. »Ich beruhigte mich erst wieder, als ich am nächsten Morgen die Kritik von Max Brod las: ›Max Pallenberg musste nach Prag kommen, um zu zeigen, wie gut Paul Hörbiger als Liliom ist.‹ «

      Bei der Prager Damenwelt erfreut sich Paul Hörbiger ebensolcher Beliebtheit wie seinerzeit in Reichenberg. Aus einem heftigen Bühnenflirt mit der bildhübschen Ophelia der Hamlet-Inszenierung des Deutschen Theaters wird jedoch bald Ernst – blutiger Ernst könnte man sagen. Paul und die junge, aus Wien stammende Josepha Gettke verlieben sich Hals über Kopf ineinander. Für den Herbst ist der Hochzeitstermin angesetzt. Doch davor sollte Paul noch Opfer eines Attentats werden.

      DER MORDANSCHLAG

       Letzte Ölung für Paul Hörbiger

      Man schreibt den 4. August 1921, Paul und Josepha, von ihren Kollegen »Pippa« genannt, verbringen ein paar spielfreie Tage in einem kleinen Gasthaus im mährischen Städtchen Wisowitz. Die beiden schauen einander verliebt in die Augen, als die Türe aufgerissen wird und Pippas früherer Verlobter Rudolf Dietz ins Zimmer stürzt. Er will Rache üben, weil Pippa ihn verlassen hat. Der Mann – ebenfalls Schauspieler – hat einen Revolver in der Hand, den er jetzt auf das verliebte Paar richtet. Und er drückt, rasend vor Eifersucht, mehrmals ab. Während die Schüsse, die auf seine frühere Geliebte gerichtet sind, ihr Ziel verfehlen, wird Paul Hörbiger von zwei Kugeln getroffen und lebensgefährlich verletzt. Die Lunge ist durchschossen, eine Rippe durchbohrt. Hörbiger verliert viel Blut und das Bewusstsein, und er wird – da es weit und breit kein Spital gibt – auf einer Bahre in ein nahe gelegenes Irrenhaus getragen, in dem er notdürftig versorgt wird. Man bringt ihn, sobald er transportfähig ist, ins Sanatorium Hera nach Wien, wo er vom berühmten Chirurgen Professor Albrecht auf Leben und Tod operiert wird. Als Paul Hörbiger aufwacht, steht noch nicht fest, ob er überleben wird. Da sagt er zu Pippa, die treu an seiner Seite wacht: »Bevor ich sterbe, will ich dich heiraten.«

      Das Krankenzimmer wird kurzfristig in einen Trauungssaal umgewandelt. Paul Hörbiger wird sich Jahrzehnte später in seinen Memoiren an diese dramatische Szene erinnern: »Attila kam als Trauzeuge, meine schwarzen Lackschuhe in der rechten Hand, hinter ihm der Rest der Familie. Die Lackschuhe hätte ich zur Feier des Tages anziehen sollen, aber ich konnte ja leider nicht aufstehen, und so blieb das Schuhwerk am Ende des Bettes stehen. Dann trat der Priester ein, verabreichte mir zuerst die Letzte Ölung, und Josepha Gettke, stehend, und Paul Hörbiger, liegend, werden getraut.«

      Während der Täter in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde, wo er einige Jahre später starb, erholte sich das Attentatsopfer Paul Hörbiger in den folgenden Wochen überraschend gut. Er kehrte im Triumph nach Prag zurück und durfte jetzt wieder seinen geliebten Liliom spielen, »wobei ich in der Sterbeszene glaubwürdiger denn je war. Ich hatte ja Übung darin«.

      Bei einem Gastspiel in Aussig erlebte er eine der typischen Theaterschnurren, die Paul Hörbiger so wunderbar erzählen konnte: »Ich blieb in der Sterbeszene ›hängen‹. Obwohl ich den Liliom so oft gespielt hatte, wollte mir ein bestimmter Satz nicht einfallen. Ich legte mich Hilfe suchend neben den Souffleurkasten. Und was raunte mir die Souffleuse unter Tränen zu, anstatt mir im Text weiter zu helfen: ›Schön spielen Sie den Liliom, Herr Hörbiger, wirklich wunderschön!‹ «