Uschi Zietsch

Elfenzeit 5: Trugwandel


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den Fingern zerrann als der Sand dort hinten. Er musste zusehen, dass er sich mehr Zeit verschaffte, doch zuerst sollte er herausfinden, in welche Zeitlinie seine Königin gestürzt war.

      Langsam stand er auf, streckte sich und ging auf den verbotenen Raum zu. Er brauchte die Tür nicht zu öffnen, um die Zeitlinie zu finden. Nun, nachdem er wusste, wonach er suchen musste, konnte er seine magischen Fühler ausstrecken, Mauern waren kein Hindernis mehr.

      Es fiel ihm immer noch schwer, sich zu konzentrieren, aber er würde jetzt nicht locker lassen. Notfalls zapfte er dem Gott doch noch die Lebenskraft bis zur Neige ab, es würde sich schon Ersatz für ihn finden. Und wenn die Königin von Tonnen Blei und Eisen umgeben wäre, nun, da er endlich den richtigen Pfad gefunden hatte, konnte ihn nichts mehr daran hindern, sie zu finden. Die Elfen ahnten ja nicht, dass Bandorchu mit den Welten mehr verbunden war, als sie jemals in der Lage waren zu verstehen.

      Und dann … schlug der zweite Blitz in ihn ein. Der Getreue erstarrte. Dann fiel er um wie ein gefällter Baum.

      6.

       Wege durch die Zeit

      Tomás der Knüpfer schleppte bei Sonnenaufgang gerade das Netz aus der Hütte, um es zum Trocknen aufzuhängen, als er die Frau sah.

      Sie lag auf dem Bauch, bedeckt nur von ihrem langen blonden Haar, nass wie Tang. Der See hatte sie ans Ufer gespült.

      Misstrauisch näherte Tómas sich ihr. Sie ist tot, dachte er, sie muss tot sein. Nachts ist das Wasser zu kalt, um darin zu überleben. Es sei denn …

      Es sei denn, sie war kein Mensch. Und das war das Wahrscheinlichste, denn eine Frau wie diese gab es in der Gegend nicht. Lange, bleiche Gliedmaßen, goldfarbenes Haar, der anmutig hingestreckte Körper … Um den ganzen See bis zur Stadt lebte keine Frau, die so aussah. Edel. Wie … eine Königin. Das war schon auf den ersten Blick ersichtlich, auch wenn das Haar das meiste bedeckte.

      Eine Watershee. Sie gaben sich manchmal den Anschein einer schönen Menschenfrau, um Männer ins Verderben zu locken und ihre Seele zu trinken.

      Er sollte sie erschlagen, bevor sie erwachte und ihn mit ihrer Stimme betörte, in Bann schlug. Dann gab es nämlich kein Entrinnen mehr.

      Vorsichtig näherte Tómas sich der ans Land Gespülten. Er zog das Fischmesser aus dem Gürtel und hielt es bereit. Die Frau regte sich nicht, vielleicht war sie doch ertrunken. Jammerschade.

      Dicht bei ihr ging er in die Hocke und betrachtete sie eine Weile. Schließlich sah er eine leichte Bewegung seitlich am Brustkorb. Sie … atmete? Lebte also doch noch? Er sollte sie töten, sofort! Das bedeutete nichts Gutes. Tómas schlug mehrmals das Zeichen wider das Böse. In diesen Tagen konnte man nicht vorsichtig genug sein. Schnell war ein Unglück geschehen, erinnerte man sich nur an Robert den Kahlen, dessen Kühe plötzlich an Euterfäule erkrankten und elend zugrunde gingen. Und das nur, weil er sich geweigert hatte, wie sein Vater Brückenzoll an den Troll zu bezahlen. Natürlich bereute er, aber es war zu spät, und so musste er fortziehen, weil er kein Auskommen mehr hatte. Das junge irische Parlament hatte zwar Hilfe für die Armen versprochen, aber es hockten ja nur Protestanten da drin, Anglo-Iren und ein paar Speichellecker der Briten, weshalb sollten die sich schon für die aufrechten Katholiken interessieren! Und dann, was war doch Charlie dem Einäugigen mit dem Steuereintreiber passiert, und seinem Bruder Sean … Deswegen hatte Tómas sich auch standhaft geweigert, den United Irishmen beizutreten, weil er keine Möglichkeit sah, dass sich etwas verbessern würde. Außerdem war er nur ein einfacher Fischer, was verstand er schon von Politik. Er hatte nie Lesen und Schreiben gelernt, aber im Netzknüpfen war er der Beste. Viele Fischer bezahlten ihn dafür, dass er ihre Netze ausbesserte oder neue knüpfte. So hatte er einigermaßen ein Auskommen, und den Rest gab ihm der See. Die Einsamkeit machte ihm nichts aus, wenn er so hörte, wie es in den Dörfern zuging. Höchstes einmal im Monat kratzte er ein paar Münzen zusammen und gönnte sich ein dunkles Pint.

      Weil Tómas sich immer aus allem heraushielt, bekam er auch nie Scherereien.

      Und jetzt lag die Watershee vor ihm am feinkiesigen Seeufer und rührte sich nicht.

      Nein, sie konnte keine Menschenfrau sein, das war einfach unmöglich. Wie hätte sie in der Kälte des Wassers heute Nacht überleben sollen? Und wie wäre sie überhaupt in den See geraten? Kein Boot weit und breit, niemand außer ihm lebte hier.

      Los: Es war genauso einfach wie beim Fisch. Das Messer richtig ansetzen, oben zwischen den Kiemen, also hier an der Kehle, und dann ein sauberer Schnitt, schnell und tief. Er musste dazu nur den Kopf leicht anheben und drehen, damit er an die Kehle herankam.

      Ein Jäger hätte das Messer wahrscheinlich in den Rücken gestoßen, das Rückenmark durchtrennt oder bis zum Herzen gebohrt. Aber dafür war das Fischmesser nicht ausgelegt. Außerdem war das ehrlos, selbst einer Frau gegenüber, sogar wenn sie eine Sirene war. Das konnte Tómas sehr schnell den Unmut des Kleinen Volks einbringen, das dann grausame Rache verübte.

      Aber … diese Frau anfassen … in ihr goldenes Haar greifen, den Kopf anheben … wer wusste schon, was sich darunter verbarg …

      Der Fischer verharrte lange in kauernder Stellung und dachte nach. Dann gab er sich einen Ruck, legte das Messer griffbereit neben sich auf den Boden, packte Schulter und Haare der Frau und drehte sie mit einer hastigen Bewegung auf den Rücken. Dann schnappte er sich das Messer und sprang kampfbereit zurück.

      Bleich und nackt lag sie vor ihm, wie einem Gemälde entstiegen. Eine Frau von solcher Schönheit hatte Tómas noch nie erblickt, höchstens einmal in Liedern besungen. Seine Kehle schnürte sich zu, auf seiner Stirn stand Schweiß, und das fiebrige Pochen in seinen Lenden erinnerte ihn daran, dass er immer noch ein Mann war, auch wenn er schon seit zehn Jahren als Witwer lebte und alles vergessen geglaubt hatte.

      Sie musste eine von denen Drüben sein, hinter den Hügeln. Für einen Menschen war sie viel zu unwirklich, das Geschehnis zu unglaublich.

      Erneut näherte er sich an. Die Kehle lag schutzlos vor ihm. Es wäre schnell getan. Aber …

      Er hatte keine Frau. Schon so lange nicht mehr. Und so eine überhaupt noch nie. Wenn er ihr das Leben rettete, war sie ihm verpflichtet. Es gab Regeln. Dann würde sich sein ganzes Dasein ändern. Nicht nur, dass die Frau Tómas bei der Arbeit und im Haus helfen konnte, sie würde auch umgehend seinen Status erhöhen, sobald er sich mit ihr auf dem Markt zeigte. Man würde ihn respektieren. Er konnte bessere Geschäfte abschließen und wäre nicht mehr auf jeden Handel angewiesen.

      Kurz entschlossen steckte Tómas das Messer in den Gürtel, dann kniete er sich neben die Frau, legte zwei Finger an ihre Halsschlagader und nickte befriedigt, als er ein gleichmäßiges Klopfen spürte. Sie war nur bewusstlos, verletzt sah sie nicht aus. Vermutlich hatte sie viel Wasser geschluckt, deshalb brachte er sie jetzt besser zu sich.

      Tómas holte aus und verpasste der Frau zwei Ohrfeigen, die sie augenblicklich ins Leben zurückholten. Ihre Wangen röteten sich, sie schlug die Augen auf – so grün wie die Wiesen am Hang oben, wenn die Sonne darauf schien –, und dann schoss ihre Hand nach oben, verfehlte Tómas’ Kehle allerdings und krallte sich stattdessen vorn in sein Hemd.

      Der Fischer stieß einen überraschten Laut aus, weil sie so schnell gewesen war, und der Griff ihrer schlanken Finger war ungewöhnlich kraftvoll. »Nur die Ruhe, nur die Ruhe, es ist alles gut!«, sagte er hastig, als sie ihn am Hemd nach vorn riss, näher zu sich, und er hatte Angst, dass sie es beschädigen würde. »Ich habe dich gefunden und wieder zu dir gebracht, ich will dir nichts tun!«

      Ihre grünschillernden Augen fixierten ihn, etwas Unmenschliches lag darin. Er … er spiegelte sich nicht in diesen Augen.

      »K-kannst du mich verstehen?«, stammelte Tómas.

      Sie öffnete die vollen roten Lippen und entblößte schneeweiße Zähne. Konnte ein Mensch so perfekt sein? »Ich verstehe alle Sprachen«, zischte sie mit rauer Stimme, die weiteren Worte gingen in einem Gurgeln unter. Sie ließ den Fischer los, wandte sich zur Seite und erbrach einen Schwall Wasser.

      Dann setzte sie sich auf, starrte