verschwinde schnell mit den Tellern in die Küche, schneide ein paar Limetten und mache drei Gläser mit Minz-Limetten-Limo und gehe wieder in das Wohnzimmer, wo die beiden sich unterhalten.
»Hast du die Revolution in Rojava miterlebt?«, fragt die Studentin. »Ist sie wirklich so toll?«
»Natürlich ist nach der Revolution nicht alles sofort gut gewesen, aber alles besser. Es hat uns wirklich Mut gemacht. Aber nun habe ich keine Hoffnung mehr. Wir haben die Welt vor dem Daesh geschützt und als Dank hat sie tatenlos zugeschaut, wie die Türkei mit deutschen Panzern in meine Stadt eingefallen ist und einen Großteil der Bevölkerung vertrieben hat. In meinem Haus wohnt nun ein arabischer Islamist, der ein kurdisches Mädchen mit Gewaltandrohung zu seiner Frau gemacht hat.«
»Hast du noch Familie in Syrien?«
»Ja, meine Oma lebt noch dort. Sie ist alt und möchte in ihrer Heimat sterben«, der Künstler holt seinen Tabak raus und dreht sich eine Zigarette. »Aber eigentlich gibt es diese Heimat gar nicht mehr. Ich bin heimatlos.«
»Erdoğan nennt seinen Einmarsch übrigens einen Erfolg gegen die Ungläubigen«, sage ich. »Genau wie Saddam seinen Genozid an den Kurden im Irak einen Krieg gegen die Ungläubigen genannt hat.«
»Tja, die Unterwerfung unter den Islam hat Kurdistan keine Sicherheit gebracht«, meint der Künstler.
Der Künstler ist sehr schlau und sehr traurig. Vermutlich macht die Welt einen umso trauriger, je besser man sie versteht. Er steht auf, geht auf den Balkon und raucht seine Zigarette. Wir schauen ihm nach. Der Wind bläst seine braunen Haare aus dem Gesicht. Durch das Fenster betrachtet sieht er aus wie eins seiner eigenen Gemälde, voller Trauer und Verzweiflung, genau wie die Musik, die er so mag.
»Und wie ist die Situation in deiner Heimat, im irakischen Teil?«, fragt die Studentin mich.
»Da ist es ganz anders. Der kurdische Teil Iraks hat seit Saddams Niederlage weitgehende Selbstständigkeit. Ich komme aus Hewlêr, also Erbil, der Hauptstadt der Autonomieregion. Meine ganze Familie lebt noch da.«
DIE SCHILDKRÖTE
Die Erinnerungen an meine frühe Kindheit sind bruchstückhaft. Aber ich weiß noch, dass wir an einer Straßenecke wohnten, ganz nahe beim alten Basar und der uralten Zitadelle.
»Die älteste Stadt der Welt«, erzählte mein Vater mir stolz, wenn er mit mir durch die alte Festung im Stadtkern spazierte.
Wenige Schritte von unserem Zuhause lag der Salon des Friseurs, der meinem Vater, meinen Brüdern und mir die Haare schnitt und Neuigkeiten aus der Stadt erzählte. Ein paar Meter in die andere Richtung befand sich ein kleiner Laden, in dem wir Kinder uns manchmal Eis holten. Und an Freitagen mussten wir nicht weit gehen, um zu dem großen Tiermarkt der Stadt zu kommen. Da gab es Hühner, Puten und Gänse zu kaufen, aber auch wunderschöne bunte Vögel in Käfigen und Raubvögel, die auf Stangen angebunden waren. Manchmal konnte ich da auch Eichhörnchen, Füchse und sogar Affen bewundern. Und es gab Becken mit glitzernden Goldfischen, die man im Beutel oder Glas mit nach Hause nehmen konnte.
Ich liebte die Tiere und bettelte so lange, bis mein Vater mir eines Tages erlaubte, mir eine kleine Schildkröte auszusuchen, die ich den ganzen Weg zurück nach Hause stolz in meinen Händen trug.
Von der Straße vor unserem Zuhause ging es in den kleinen quadratischen Innenhof. Rechts vom Eingang war ein kleiner Garten. Weiter hinten lag ein Toilettenschuppen mit einer Stehtoilette voller Kakerlaken und einer kleinen Kanne mit Wasser zum Waschen und Spülen. Ich versuchte immer ein paar der vielen Schaben mit wegzuspülen. Aber sie krochen ständig wieder aus dem Loch hervor. Ich ekelte mich vor ihnen und weigerte mich, nachts im Dunkeln auf die Toilette zu gehen. Deswegen bekam ich von meiner Mutter eine Flasche ans Bett, in die ich stattdessen pinkeln konnte.
Unser Wohnhaus lag in der linken Ecke des Innenhofs. Ich erinnere mich an die sandfarbenen Mauersteine an den Außenwänden und daran, wie der Putz daraus bröckelte. Auf der einen Seite des Hauses rankte eine Grünpflanze und davor schwirrten immer Bienen, die manchmal so träge waren, dass ich sie mit einem Glas einfangen und darin untersuchen konnte, bevor ich sie wieder freiließ.
Im Haus gab es einen Waschraum und zwei Zimmer. In dem einen schliefen meine Eltern, in dem anderen wir Kinder. Abends holte meine Mutter die Unterlagen, Kissen und Bettdecken aus dem Schrank und richtete unsere Schlafstätten für uns ein.
Vor dem Haus war die Kochecke unter einer Überdachung. Außen am Haus führte eine Treppe auf das Dach. Oben befanden sich ein großer Wassertank und eine kleine Dachterrasse, von der ich die Welt überblicken konnte, in der sich fast meine ganze frühe Kindheit abspielte.
Nur manchmal nahm mein Vater mich den langen Weg in die Werkstatt mit, in der er damals arbeitete. Ich liebte es, war meinem Vater aber oft mehr im Weg als zur Hilfe. Ich ließ mich zu leicht ablenken, um ihm sein Werkzeug zuverlässig zu reichen, hatte keinen Spaß daran, ihm nur beim Schrauben zuzugucken, und stellte mich zu ungeschickt an, um selber mit an den Autos zu hantieren.
»Willst du dir nicht Falafel holen gehen«, schickte mein Vater mich meistens nach kurzer Zeit weg. Dann spazierte ich stolz die wenigen Schritte zum Imbiss, schaute zu, wie der Händler den Teig zu kleinen Bällen formte und frittierte, nahm die fertige Brotrolle entgegen und stapfte damit zurück. Ich aß meine Mahlzeit in einer Ecke der Werkstatt und bemühte mich, ruhig zu warten, sprang aber meistens schnell wieder auf und hampelte rastlos um meinen Vater herum, bis er mich nach Hause bringen konnte.
Meiner Mutter machte es nichts aus, wenn ich versehentlich etwas umstieß, laut jauchzte oder mitten in einem Arbeitsschritt plötzlich vergaß, was ich machen wollte, weil ein Schmetterling vorbeiflog oder ein Vogel auf dem Strauch im Garten landete. Das Arbeiten im Haushalt wurde deshalb zu meinem liebsten Hobby. Ich goss Pflanzen im Garten, fegte den Innenhof und half beim Waschen und Trocknen der Wäsche auf dem Dach unseres Wohnhauses.
Eines Tages kam mein älterer Cousin vorbei, als ich gerade einen Teppich auf dem Dach bearbeitete, und bot mir seine Hilfe an. Wir kippten gemeinsam Seifenwasser über den Teppich, schrubbten die Fasern und spülten die Lauge mit einem Gartenschlauch ab. Mein Cousin war gewissenhaft am Schrubben, während ich den Schlauch führte. Ich nahm ihn hoch, um meinen Cousin nasszuspritzen, und rutschte dabei so heftig auf der Seifenlauge aus, dass ich kopfüber auf das Dach knallte. Was genau danach passierte, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch an meine aufgeplatzte Lippe und daran, dass ich ein paar Tage eine Bandage um den Kopf tragen musste und mein Cousin sich darüber lustig machte.
Ich tröstete mich im Garten mit meiner Schildkröte und strich ihr fasziniert über ihren harten Panzer. Dabei verlor ich sie kurz aus den Augen und fand sie nie wieder, doch die Beule über meiner rechten Augenbraue blieb.
DER STAUB
Der Künstler sieht noch immer traurig aus, als er die Balkontür aufmacht und sich wieder setzt.
»Ich mag Irakisch-Kurdistan sehr«, sagt er. »Aber ich hätte mir nie vorgestellt, dass Kurden so altmodisch sein können. Für uns in Syrien war die Autonomieregion immer das Gelobte Land. Aber als wir dahin flüchten mussten, war es wie eine Reise in die Vergangenheit. Das war fast wie im Mittelalter gegen das Leben in den Städten Syriens.«
»Ja, zumindest in Hewlêr«, stimme ich ihm zu.
»In Silêmanî ist es etwas moderner, studentischer, da gibt es viel Kunst und Kultur. Und es ist die Stadt der Eselpartei«, erinnert der Künstler.
Wir lachen beide laut auf. »Oh, die hatte ich fast vergessen«, sage ich.
»Die Partei hat sich für Esel eingesetzt, weil Esel die einzigen waren, die den kurdischen Freiheitskampf aktiv und uneigennützig unterstützt haben. Das Manifest der Partei war sehr lustig. Bei Parteitagen durfte man die Türen nur mit einem Eselstritt öffnen und das Parteilied lautete ›Ihhh-Ahhh‹.«
»Eigentlich erstaunlich, dass