Amed Sherwan

Kafir


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sagt er ernst.

      »Seit wann interessierst du dich für den Koran? Außerdem sind alle Drogen harām«, ich klopfe ihm auf die Schulter. »Glücksspiel übrigens auch, Habibi!«

      Früher ist Basketball seine große Leidenschaft gewesen, nun sucht er offensichtlich Halt in der Religion. Das werde ich nicht mit ihm diskutieren. Ich gehe zurück zur Tanzfläche und geselle mich zu meiner Freundin und dem Computerfachmann. Sie singen lautstark ein Lied mit, das ich noch nie gehört habe.

      »Ich gehe mal ein bisschen vor die Tür, oder wollen wir nach Hause?«, frage ich meine Freundin.

      »Du bist gut«, sie lacht. »Nun bleibe ich erst mal hier.«

      Ich stehe vor der Bar. Drei blonde Typen mit zerzausten Bärten taumeln an mir vorbei, klettern in ein schrottreifes Auto, fahren los und hinterlassen eine Fahne Dieselgeruch.

       DIE BERGE

      Der Ölgeruch war allgegenwärtig. Ich nahm ihn nicht bewusst wahr, genauso wenig wie das Rauschen der Autos oder das Rattern der dieselbetriebenen Stromgeneratoren. Mir fiel nur auf, wenn etwas davon fehlte. Wenn wir zum Beispiel einen der seltenen Ausflüge in die Berge von Şeqlawe machten.

      Meine Eltern hatten Freunde in den Bergen. Auf ihren Feldern wuchsen Bäume – Granatäpfel, Maulbeeren, Birnen, Pflaumen und Oliven. Meine Geschwister und ich kletterten in den Bäumen oder gingen in die Felder. Wir pflückten Tomaten zum Kochen und naschten Kichererbsen und Weintrauben. Wir ernteten Tirozî, lange gurkenähnliche Melonen, und dippten sie in Sumach, die gemahlenen Früchte der Essigbäume, die überall wild wuchsen. Genau so stellte ich mir das Paradies vor.

      Auch die kleine Stadt in den Bergen erschien mir ganz magisch mit dem kleinen Basar mit ganz anderen Spezialitäten als in unserer großen Stadt. Wir Kinder bekamen Eis in kleinen Schalen und spazierten damit mit unseren Eltern durch die Straße.

      Der Weg in die Berge führte über kleine, gewundene Straßen. Und ich weiß noch genau, dass wir einmal unterwegs zum Essen anhielten. Mein ältester Bruder saß schon mit meinem Vater auf der Decke, meine Schwester erkundete mit unserem kleinen Bruder die Gegend, während ich mit meiner Mutter das Essen aus dem Auto holte. Wir legten eine lange Plastikdecke auf den Boden und verteilten darauf Schüsseln mit Reis, Dolma und Salat.

      »Bismillah, im Namen Gottes!« Das Essen duftete und die Luft um uns war frisch und wunderbar.

      Der Kopf ist bescheuert und merkt sich die Ausnahmen am besten, wahrscheinlich erinnere ich mich deshalb so glasklar an die Ausflüge. Vielleicht erinnere ich mich auch nur deshalb an diese Fahrten, weil es davon viele Fotos gibt. Darauf sind wir aber selbstverständlich nicht beim Essen, sondern stehen meistens aufgereiht nebeneinander und starren feierlich in die Kamera. Es gibt aber auch ein Bild, auf dem ich barfuß in einem Fluss stehe und schmollend in die Kamera schaue. Und ich liebe ein Familienfoto, auf dem alle brav posieren, während ich in der Mitte eine Grimasse in Richtung Kamera mache, die offensichtlich mein Vater hält, weil er auf dem Foto fehlt.

       DAS KIND

      »Ist das deine Familie?«, fragt mich der Spieler, während er sich die Fotos anguckt, die ich hinter meinem Sofa an die Wand geklebt habe.

      Mein großer Bruder mit ernstem Gesicht, meine Schwester lächelnd, mal mit Zopf, mal verschleiert, meine Mutter mit großen braunen Augen vom Kopftuch umrandet und immer in langem Mantel, mein kleiner Bruder und ich oft mit den gleichen T-Shirts, wie Zwillinge. Manchmal fehlt mein Vater auf den Bildern, manchmal steht er neben uns mit zerzausten schwarzen Haaren und dunklen Augenbrauen. Auf dem letzten gemeinsamen Bild sehen wir alle so aus, als sei gerade jemand gestorben.

      »Ich vermisse meine Familie so sehr«, sagt der Spieler. Seitdem seine Familienzusammenführung gescheitert ist, verspielt er jeden Monatsanfang all sein Geld in der Hoffnung, plötzlich reich zu werden und damit alle seine Probleme lösen zu können. Manchmal arbeitet er auch als Drogenkurier, doch viel häufiger dröhnt er sich selber zu, um zu vergessen. Zurückgehen kann er nicht, ankommen auch nicht.

      Gelegentlich fragt er mich, ob er bei mir übernachten kann. Dann duscht er, während ich etwas für ihn koche. Während des Essens erzählt er mir von seiner Familie. Danach rollt er sich auf meinem Bett zusammen und schläft wie ein kleines Kind. Er wohnt in einem Zimmer mit drei Leuten, die eine andere Sprache sprechen. Er vermisst sein altes Leben, das Essen seiner Mutter und die Familie.

      Aber er hat sie enttäuscht. Sie werfen ihm vor, dass er sich nicht genug bemüht hat, sie nach Deutschland zu holen. Dabei hat er alles versucht. Aber er ist erst als Volljähriger als Flüchtling anerkannt worden, und nun hängt seine Familie in der Türkei fest und hofft, dass ihr Sohn es hier in Deutschland zu etwas bringt und ihnen zumindest regelmäßig Geld schicken kann. Er kann sich nicht mal um sich selber kümmern.

      »Vermisst du deine Familie gar nicht?«, fragt er mich am nächsten Morgen, als wir zusammen zum Bus gehen. »Hättest du sie nicht holen können?«

      »Nein, ich hätte sie nicht holen können. Aber das hätten sie ohnehin nicht gewollt.«

      Wir stellen uns an die Bushaltestelle und warten auf den Bus. Im Wartehäuschen sitzen zwei Frauen mit einem kleinen Kind. Das Kind stellt eine Frage nach der anderen. Die beiden Frauen unterbrechen jedes Mal ihr Gespräch und beantworten jede Frage freundlich und ruhig.

      Der Spieler und ich gucken uns an und kichern.

      »Das war bei mir nie so«, sage ich.

      »Bei mir auch nicht. Kinder sollen zuhören und leise sein.«

      »Ja. Aber ich habe trotzdem immer dazwischengequatscht.«

       DIE PINGELIGKEIT

      Ich vergötterte meinen Vater, und obwohl er wie alle Väter, die ich kannte, oft streng war und selbstverständlich auch mal schlug, hatte ich immer das Gefühl, dass er mich genau so liebte, wie ich war. Ich erinnere mich gut daran, wie er roch, wenn er mich morgens weckte, damit wir zusammen zum Morgengebet gehen konnten.

      Wir schlichen uns aus dem Haus, setzten uns ins Auto und fuhren schweigend durch die Stadt zur Moschee, um uns dort unter die wenigen Leute zu mischen, die so früh da waren. Nach zwei Gebetsdurchgängen, ein bisschen ruhigem Beisammensein und dem Lesen einiger Suren kehrten wir wieder zurück. Wenn wir ins Haus kamen, war meine Mutter meist dabei, die Betten fein säuberlich aufzurollen und wegzuräumen.

      Wenn mein Bruder es noch nicht geschafft hatte, lief ich schnell zum Bäcker und holte frisches Brot. Ich schaute zu, wie die Männer die Teigkugeln an die Innenwände des hohen, nach oben enger werdenden Tandurofens warfen und wieder rausholten, und naschte auf dem Weg zurück oftmals ein Stück des warmen, duftenden Brotes, bevor ich mich zu meinen Geschwistern zum Frühstücken auf den Boden setzte.

      Im Sommer war es tagsüber brütend heiß in unserem Haus. Der Ventilator an der Decke lief ständig, und ein Klimagerät vor dem Fenster pustete heftig in den Raum. Wir stellten uns davor und ließen unsere Haare im Wind wehen und uns das Gesicht kühlen. Im Winter war es kalt und wir hockten nahe am Ölofen, wärmten unseren Tee oder legten ein Fladenbrot darauf.

      Vor den Mahlzeiten achtete meine Mutter pingelig auf unsere Sauberkeit. Wir mussten die Hände waschen und vor allen Dingen darauf achten, dass kein Dreck unter den Fingernägeln steckte. Denn wenn die Fingernägel dreckig waren, konnte Satan sich darin verstecken.

      Satan nutzte jede Gelegenheit, sich anzuschleichen. Wenn ich morgens mit Speichel auf den Lippen aufwachte, hatte Satan sie nachts angepinkelt und ich musste sie schnell sauber waschen. Die Zähne waren aber offensichtlich nicht sein Revier, ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir als kleine Kinder jemals Zähne geputzt hätten.

      Aber ich weiß noch sehr genau, als uns die Familie meines Onkels aus Deutschland besuchte und meine kleine Cousine abends eine Zahnbürste und einen