Amed Sherwan

Kafir


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trinkst du nicht aus dem Hahn?«, fragte ich sie.

      »Weil man Wasser sparen muss«, sagte sie. Ich lachte, weil ich sowas Komisches noch nie gehört hatte. Wenn unser Wassertank voll war, lief es aus dem Hahn, und wir mussten es nicht sparen. Und wenn Wassermangel herrschte oder das Wasser dreckig war, blieb der Hahn zu. Dann kauften wir große Container mit Wasser und sparten es zum Trinken auf und bestimmt nicht, um uns damit nur den Mund auszuspülen.

      Meine Cousine trug schon als kleines Kind eine Armbanduhr. Sie sprach kein gutes Sorani, konnte aber trotzdem die Namen aller Monate und redete viel über Zeit.

      Wenn wir Zeit hatten, teilten wir sie gern. Doch Zeit schien bei ihr genau wie das Wasser etwas zu sein, das man nicht verschwenden durfte.

      Selbst ihre Süßigkeiten teilte sie sich ein. Sie guckte sauer, wenn man sich welche davon nahm, so als ob sie sich keine nachkaufen könnte.

      Dabei redete ihr Vater ständig davon, wie reich sie in Deutschland waren, und zeigte Fotos von seinem großen schwarzen BMW. In Deutschland war alles größer, schneller und besser als im Irak, erzählte er stolz von seinem Besitz. Vielleicht bekam man mehr Angst davor, etwas zu verlieren, je mehr man davon hatte.

       DAS GRAUEN

      Meine Freundin hat es eilig und stürzt ohne Frühstück aus ihrer Wohnung.

      Ich mache das Bett und einen Tee, setze mich damit an den Tisch und scrolle auf meinem Mobiltelefon durch meinen Newsfeed.

      Neben Katzenfotos und Werbung für Flugreisen und Turnschuhe taucht plötzlich ein Begriff auf: Earth Overshoot Day.

      Ich google den Begriff und lese, dass wir als Menschheit heute die Ressourcen, die uns die Erde in diesem Jahr zur Verfügung stellt, verbraucht haben. Dabei ist erst das halbe Jahr vergangen.

      Mich packt ein inneres Grauen.

      Ich lege das Telefon weg und ziehe mich an. Ich mache mich auf den Weg in die Psychiatrie, um den Spieler zu besuchen. Das muntert mich bestimmt auf.

      Inzwischen wohne ich schon so lange in der Grenzstadt, dass ich nicht nur norddeutsch klinge, ich denke auch so. Müsste ich zurück nach Kurdistan, würde ich vermutlich innerhalb weniger Tage wieder im Knast landen, weil dort niemand meinen Humor versteht.

      Die Psychiatrie ist ein trauriger Ort, aber der Spieler lacht mich an. Er freut sich, dass überhaupt mal jemand reinguckt. Als unbegleiteter Minderjähriger eingereist, hat er keine Familie, die ganz selbstverständlich Krankenbesuche macht.

      »Habibi, wie geht es dir«, frage ich ihn.

      »Besser, ja, besser. Allah gibt mir die Kraft. Ich werde nie mehr Drogen nehmen. Ich spiele nicht mehr. Ich werde jetzt gut leben.«

      Er glaubt es wirklich und guckt ganz selig, als sei er selbst der Prophet.

      Seitdem er nicht mehr auf dem Basketballplatz, sondern in der Spielhalle spielt, geht es ihm stetig schlechter. Vor einigen Wochen hat er so viele chemische Drogen genommen, dass er in der Psychiatrie gelandet ist. Und nun spricht Gott zu ihm.

      Wir rauchen am Fenster im Raucherzimmer.

      »Kommst du bald wieder?« Er guckt wie ein verlassener Welpe. Ich verspreche ihm, dass ich bald wieder reinschauen werde.

      Einer meiner deutschen Facebookfreunde schreibt, dass Ex-Muslime wie ich die einzigen Flüchtlinge sind, die es verdient haben, hier zu sein. »Kriminelle Ausländer abschieben«, beendet er seinen wütenden Post.

      »Du verwöhnter Idiot«, denke ich mir, blockiere ihn und renne zum Bus. Ich setze mich ganz nach hinten und lasse die Kleinstadt an mir vorbeiziehen. Mehrfamilienhäuser werden zu Einfamilienhäusern, dazwischen ein bisschen Grün.

       DAS LEBEN

      Als ich neun Jahre alt war, zogen wir um in ein neues Viertel. Reihe an Reihe moderner neuer Häuser für Familien, die es zu etwas gebracht hatten. Und wir gehörten dazu.

      Früher hatte meine Mutter manchmal Kuchen, Saft oder Eiscreme hergestellt und an die Läden rund um den Basar verkauft. Nun musste sie das nicht mehr. Ein erfolgreicher Mann musste seine Frau nicht arbeiten lassen.

      Mein Vater hatte das Grundstück gekauft, die Bauarbeiten persönlich überwacht und vieles selber gemacht. Ich fand die Baustelle furchtbar aufregend. An den Tagen, an denen ich nachmittags schulfrei hatte, flehte ich meinen Vater deshalb an, mich mitzunehmen.

      Und obwohl mein Vater erst skeptisch war, belehrte ich ihn eines Besseren. Ich räumte Schutt weg, putzte Fenster und Räume, strich die Wände und malte mir dabei in Gedanken unsere schöne Zukunft in dem wunderbaren neuen Haus aus, so schön wie das neue Viertel mit dem verheißungsvollen Namen Jian, Leben.

      Bismillah, ein neues Leben lag vor uns.

      Die ersten Stunden im neuen Haus verbrachten mein Bruder und ich allein. Mein Vater hatte uns vorab abgesetzt und war dann zurückgefahren, um den Rest der Familie abzuholen. Wir standen am Herd in der neuen modernen Küche, machten uns ein Mittagessen aus Instantnudeln und waren glücklich.

      Es gab zwei Badezimmer im Haus. Im oberen Bad befand sich eine Toilette im marokkanischen Stil, auf die man sich setzen und mit Wasser aus einem Schlauch säubern konnte. Unsere Kinderzimmer hatten flauschige Teppiche, moderne Betten und Kleiderschränke. Ich teilte das Zimmer mit meinem großen Bruder, hatte aber einen eigenen Schreibtisch und durfte mir zum Einzug einen kleinen Goldfisch kaufen, der in seinem hübschen neuen und glänzenden Glas auf meinem Tisch seine Runden zog und mich begeisterte.

      Alle unsere Nachbarn waren ebenfalls gerade eingezogen. Neben uns wohnte eine nette Familie vom Land. Sie legten einen großen Rasen und Blumenbeete um das Haus an. Als ihnen die Pflanzen nicht schnell genug wuchsen, holten sie eine Wagenladung Dung. Der Geruch hing tagelang in der ganzen Straße und zog in unser schönes neues Zuhause. Wir mussten für eine Woche zu meinen Großeltern ziehen, um nicht stinkend in der Schule aufzutauchen.

      In der neuen Schule kannte mich niemand. Wenn ich versehentlich etwas umstieß, lachte ich frech. Ich entschuldigte mich nicht mehr, wenn mir die Antwort auf eine Frage laut rausplatzte, ohne dass ich mich vorher gemeldet hatte. Und wenn ich den Faden verlor, tat ich so, als sei mir die Schule einfach egal. Ich wurde vom Klassentrottel zum Klassenclown und fand dadurch endlich Freunde.

      Ich war nicht stark und sportlich, aber Konfrontationen gewohnt. Wenn Lehrkräfte ungerecht waren und zu streng straften, war ich der Einzige, der sich traute, den Mund aufzumachen. Und als wir Arabisch als Fremdsprache in der Schule bekamen, wollten alle plötzlich gerne neben mir sitzen. Ich hatte so viel im Koran gelesen, dass die leichten arabischen Anfängertexte lächerlich einfach für mich waren. Ein neues Leben hatte begonnen.

       DAS GESCHÄFT

      »Die Flüchtlinge nehmen mir meine Arbeit weg!«, flucht er. Er habe sich ein Geschäft aufgebaut, einen guten Ruf und fast ein Monopol gehabt. Und nun kämen diese Flüchtlinge und machten ihm Konkurrenz.

      Er ist als Kind mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen. Das Herkunftsland seiner Familie hat er seitdem nur zwei Mal besucht. Sein Deutsch ist gut, er sieht freundlich aus. Aber er ist wütend und frustriert.

      »Merkel ist schuld«, sagt er. Sie habe diese ganzen Leute ins Land geholt, und seitdem sie da seien, habe niemand mehr Respekt vor ihm.

      »Hm«, antworte ich und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich nehme das Weed, gebe ihm einen Zehner und verabschiede mich in Richtung Bus.

      Am Busbahnhof treffe ich meinen besten Freund, den kleinen Gangster, im Gespräch mit einem Kumpel.

      »Schlounak, wie geht’s, Habibi?«, fragt er und umarmt mich herzlich.

      »'ana bikhayr, alhamdulillah, mir geht