Amed Sherwan

Kafir


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erlaubt.«

      »Jaja, solange man Familie, Glaube und Sexualmoral ausklammert«, sage ich zynisch. »Ein falscher Witz und du bist tot.«

      »Was willst du damit auch erreichen? Als ich so jung war wie du, dachte ich auch, dass Provokationen wirken. Aber nun bin ich erwachsen und sehe es realistischer.«

      »Na, wohl eher fatalistischer. Willst du die Ewiggestrigen einfach duldsam aushalten? In Kurdistan hat sich die erste Hochkultur der Menschheitsgeschichte entwickelt. Und seither geht es gefühlt stetig bergab. Vielleicht sollte man die Leute da sogar eher Neugestrige nennen? Gibt es so ein Wort?«

      »Nein, das gibt es bisher nicht, glaube ich. Aber es passt gerade auch zu vielen Menschen in Deutschland«, sagt die Studentin.

      »Im Moment ist Irakisch-Kurdistan ja zumindest ziemlich sicher, nur etwas altmodisch«, sagt der Künstler.

      »Hewlêr ist ja auch eine der am längsten durchgehend bewohnten Städte der Welt, da haftet halt der Staub alter Zeiten an den Gemäuern.«

      »Ja, staubig ist es da auf jeden Fall in mehrfacher Hinsicht.«

       DER KRIEG

      Der staubige, schmale Bürgersteig entlang der Straße vor unserem Haus war wie ein Treppenabsatz, auf dem wir Kinder oft saßen, mit Steinen oder Murmeln spielten oder einfach die Straße beobachteten.

      Einmal konnten wir sehen, wie der Präsident mit seinem Gefolge durch unsere Stadt kam. Schwerbewaffnete Truppen begleiteten seinen Zug durch die Straßen und die Luft war von Helikopterlärm erfüllt. Wir standen auf, staunend und ehrfurchtsvoll vor dem mächtigsten Mann unserer Region.

      Manchmal fuhren amerikanische Soldaten auf einem Pickup auf der großen Straße am Haus vorbei. Vorne zwei Menschen in der Fahrerkabine und hinten jemand mit Waffe an einem Stand. Manchmal gingen sie auch zu Fuß, und wenn sie an unserer Ecke in die Straße einbogen, sprangen mein kleiner Bruder und ich aufgeregt auf und rannten ihnen hinterher. Manchmal drehten sie sich dann zu uns um, lächelten und sagten etwas auf Amerikanisch. Mein Bruder und ich bewunderten diese großen Männer. Einige hatten ganz helle Haare, andere ganz dunkle Haut. Sie waren die Guten und hatten uns von Saddam und seinem Vetter Ali Chemie befreit. Sie erschienen mir wie Helden aus einem Märchen.

      Auf dem Weg zurück imitierten wir die amerikanischen Worte, begrüßten uns mit »Hello«, kicherten und fragten uns, wie es wohl in Amerika war. Und dann hockten wir uns wieder an den Straßenrand, spielten mit Murmeln und warteten darauf, dass unser Vater von der Arbeit kam. Er lächelte immer breit, wenn er uns beide sitzen sah. Wir rannten dann auf ihn zu und hüpften an ihm hoch. Manchmal packte er einen von uns und wirbelte uns einmal durch die Luft.

      Mein Vater war auch ein Held. Er hatte dichtes schwarzes Haar, dunkle Augenbrauen und einen Schnauzer, so wie jeder Mann mit Autorität. Ich war stolz auf meinen Vater. Er hatte sein Leben und seine Familie im Griff. Er war gottesfürchtig, schreckte aber sonst vor nichts zurück und war jederzeit bereit, zu den Waffen zu greifen, um die Ehre seiner Familie oder seines Volkes zu verteidigen.

      Manchmal holte er seine alten Waffen aus dem Schrank und zeigte sie uns. Wir durften sie anfassen und er erzählte uns dann von der Zeit, als er gegen die Araber gekämpft hatte. Er war in den Bergen gewesen. Wie er wohl da gelebt hatte? Hatte er morgens zu Hause gegessen und danach in den Bergen gekämpft? Die Erwachsenen redeten oft von der Zeit, als die Kurden keine anderen Freunde hatten als die Berge. Und ich stellte mir gerne vor, dass die Berge riesige, freundliche Wesen waren, die meinen Vater versteckt und beschützt hatten im letzten großen Krieg.

      Der Krieg war vorbei, aber allgegenwärtig. Auf den Mahntafeln für die Verstorbenen, in den Körpern der Männer und den Augen der Frauen. Unser Nachbar sprach nicht mehr, sein Körper war aus dem Gefängnis in Silêmanî befreit worden, seine Seele war aber noch dort gefangen. Er verrichtete seinen Alltag nur noch mechanisch und starrte dabei vor sich hin. Und wenn man in seine Augen sah, war da nichts mehr, nur Leere.

      Südlich der Autonomieregion tobte der Krieg noch, und Besuche bei meiner Tante in Kerkûk waren immer bedrohlich. Ständig jagte sich da jemand mit dem Auto in die Luft. Wir durften ihr Haus nie allein verlassen und waren alle froh, wenn wir wieder heil zu Hause angekommen waren.

      Unsere Bekannten in der Stadt Helebçe besuchten wir Kinder nie, weil meine Mutter Angst hatte, wir könnten uns dort noch vergiften an dem Giftgas, mit dem das irakische Regime zehn Jahre vor meiner Geburt fast die ganze Stadt ausgelöscht hatte.

      Die Freundin meiner Mutter war eine Hałâtin, eine Vertriebene. Eines Abends saß sie bei uns zu Hause auf dem Boden und erzählte vom Giftgasangriff. »Plötzlich roch die Luft ganz süß und lecker wie frischer Apfel, und kurz danach fing das Sterben an.«

      Tausende waren innerhalb weniger Minuten tot. Und in dem Chaos des Massensterbens wurden viele Familien auseinandergerissen. Die Säuglinge, die danach von den Rettungskräften alleine aufgefunden wurden, wurden adoptiert und lebten nun in neuen Familien. Ich konnte danach nie wieder einen Apfel essen, ohne an die Kinder von Helebçe zu denken.

       DER KREISLAUF

      Ich gehe mit meinem Freund, dem Trainer, am Hafen entlang, die ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres fallen auf unsere Gesichter. Die ganze Stadt ist draußen. Eltern mit Kinderwagen, Pärchen eng umschlungen, Kinder auf dem Spielplatz. Vor den Restaurants sitzen Grüppchen bei Bier und Fischgerichten. Wir setzen uns auf eine Holztreppe am Wasser und teilen uns meinen letzten Tabak. Es ist Monatsende und wir sind beide pleite.

      Der Trainer ist groß und muskulös. Er hat schwarze Haare, einen Zopf und ein strahlendes Lachen. Ich reiche ihm nur knapp über die Schulter und watschele ungelenk neben ihm her, während er sich geschmeidig durch die Straßen bewegt und dabei aussieht wie ein Krieger. Doch der Schein trügt, während ich aufbrausend und kämpferisch bin, ist er besonnen und sanftmütig.

      Er ist behütet in Syrien aufgewachsen und liebt seine Familie. Er hat sein Abitur gemacht und sorglos in die Zukunft geschaut. In seiner Freizeit hat er Fußball gespielt oder im Betrieb seiner Familie mitgearbeitet. Und er hat keine Sekunde gedacht, jemals in ein anderes Land flüchten zu müssen.

      »Bei Sonne ist es schön hier«, er schaut über das Meer. »Doch leider scheint sie fast nie.«

      »Ja, ich verstehe inzwischen auch, warum hier alle hektisch rausrennen, sobald die Sonne scheint«, sage ich. »Sie könnten den einzigen Sommertag des Jahres verpassen.«

      »Ich vermisse Syrien. Vor dem Krieg war es so ein schönes Land. Ich habe mir über Politik wenig Gedanken gemacht und einfach nur mein Leben genossen und das gute Wetter. Wobei ich erst jetzt weiß, wie schön es war.«

      Der Trainer lernt fleißig Deutsch. »Danke, bitte, Entschuldigung«, perfektioniert er das Auftreten, das von einem guten Flüchtling erwartet wird, engagiert sich ehrenamtlich als Trainer und nimmt jede Arbeitsgelegenheit wahr.

      »Ich werde mich vielleicht bald bei einem Sicherheitsdienst bewerben«, sagt er.

      »Vielleicht solltest du lieber eine Ausbildung machen«, schlage ich vor. »Möglicherweise könntest du sogar studieren.«

      »Aber das dauert doch ewig«, wehrt er ab und drückt die Zigarette aus. Er will unabhängig sein und sich selbst versorgen. »Mein Deutsch ist auch gar nicht gut genug.«

      »Kennst du den Übersetzer, der in Syrien Deutsch studiert hat?«, frage ich ihn.

      »Ja, der spricht fließend Deutsch und hat einen guten Job«, sagt der Trainer. »Der hat Glück im Unglück gehabt. Ich muss halt sehen, was ich ohne Ausbildung kriegen kann«, sagt er.

      »Nicht, dass du Deutschland noch Geld wegnimmst, so wie ich«, grinse ich provokativ. Er guckt mich fragend an.

      »Naja, einen Großteil meines Geldes vom Jobcenter kriegt mein Vermieter, dann kriegt mein Stromanbieter noch was und den Rest gebe ich fast komplett für Lebensmittel aus. Ich