Amed Sherwan

Kafir


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er sich von uns und wünscht uns Eid Mubarak zum Opferfest. Der kleine Gangster erwidert den Wunsch fröhlich, ich verkneife mir einen aggressiven Kommentar.

      »Was ist denn mit dir los?«, fragt der kleine Gangster. »Darf man dir nicht mal mehr ein frohes Fest wünschen, nur weil du nicht glaubst?«

      »Ich habe kein Problem damit, wenn mir jemand frohe Weihnachten oder gesegneten Ramadan wünscht. Aber das Opferfest ist nicht mein Fest. Ich esse keine Tiere. Ich erinnere mich noch genau an das Schreien der Schafe und das Spritzen des Blutes, furchtbar.«

      »Das verstehe ich sogar«, sagt er und lädt mich zu sich ein. »Ich habe Feierabend, kommst du mit zu mir?«

      Wir steigen in den Bus und fahren auf die andere Hafenseite.

      »Hast du gehört, dass der Spieler im Krankenhaus ist?«, frage ich.

      »Ja, Scheiße. Man soll nicht so viel von den eigenen Waren naschen.«

      »Arbeitest du noch in der Fabrik?«

      »Nee, ich jobbe jetzt in einem Imbiss. Es ging echt nicht mehr. Ich musste immer um fünf Uhr aufstehen, um rechtzeitig da zu sein. Meine Mutter hat mich dafür jeden Morgen aus Syrien angerufen, damit ich nicht verschlafe.«

      Der kleine Gangster ist ein geliebter Mensch. Seine Mutter wohnt in einer zerbombten Stadt, sorgt sich aber um ihren jüngsten Sohn, der ganz allein ist in der Fremde. Mit seinen legalen Jobs verdient er kaum seinen Lebensunterhalt, deshalb versucht er, sich parallel anderweitig Geld zu verschaffen, um seiner Mutter damit über die Runden zu helfen.

      Ich weiß inzwischen, dass ich ohne meine Familie leben kann, und meine Familie überlebt auch ohne mich. Den meisten meiner Freunde geht es anders. Sie müssen ihren Eltern etwas beweisen. Oder ihnen einfach das Leben retten.

       DER KOPFSCHMERZ

      In Arabisch bekam ich weiterhin Bestnoten, aber in allen anderen Prüfungen schnitt ich immer schlechter ab. In den ersten Klassen hatte ich mich irgendwie durch die Schule geschlängelt, jetzt verlor ich immer mehr den Überblick. Wenn ich eine Rechenaufgabe lösen sollte, war das kein Problem. Aber wenn ich einen ganzen Bogen mit Aufgaben bekam, wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte.

      Meine neue Attitüde machte mich zudem bei den Lehrern unbeliebt. Nun zog ich zwar nicht mehr den Spott der anderen Kinder, dafür aber zunehmend den Zorn der Lehrkräfte auf mich. Und sie beschwerten sich bei meinen Eltern, dass ich ungezogen sei und weit unter meinen Möglichkeiten bliebe.

      Meine Eltern hielten mich deshalb dazu an, zu Hause mehr zu üben. Wenn ich meiner Mutter zur Hand gehen wollte, schickte sie mich hoch zum Lernen. Aber die Texte und Zahlen verschwammen vor meinen Augen. Ich entfloh dem Druck wie gewohnt, indem ich das Viertel erkundete. Ich untersuchte jeden Winkel, kletterte über Bauzäune, schaute mir Baustellen und Gärten an.

      »Bitte, Baba, schenk mir ein Fahrrad«, bettelte ich und stellte mir vor, wie ich durch die Nachbarschaft flitzen würde. Und eines Tages kam mein Vater tatsächlich mit Fahrrädern für mich und meinen kleinen Bruder nach Hause. Wir übten erst mit Stützrädern, dann ohne. Und bald erfüllte sich mein Traum, als wir um die Wette die Straße runtersausten.

      »Ich bin viel schneller als du«, lachte mein kleiner Bruder mich aus. Er war zwei Jahre jünger, aber fast schon so groß wie ich und viel sportlicher. Ich strampelte mich hinter ihm ab und war so konzentriert darauf, ihn einzuholen, dass ich weder nach rechts noch links schaute. Im einen Moment war er noch vor mir, im nächsten lag ich im Krankenhaus.

      Mich hatte ein Auto erwischt, mein Gesicht war geschwollen und mein Kopf tat weh. Ich hatte eine schwere Gehirnerschütterung und musste auch zu Hause im Bett bleiben.

      »Das arme Auto«, sagte unser Nachbar, als er bei uns vorbeischaute. »Was stimmt bloß mit dem Jungen nicht?« Ich lag im Bett, hörte ihn und fragte mich dasselbe.

      Wenige Monate nach dem Autounfall rannte ich im Spiel hinter meinem kleinen Bruder her und rutschte dabei so heftig aus, dass ich wieder fiel, aufs Gesicht. Diesmal tat der Kopf nicht nur weh, mein Vorderzahn brach raus und ich kriegte eine Zahnprothese.

      Irgendwie ging bei mir immer alles zu Bruch: Teller und Gläser und mein eigener Körper. Mein ältester Bruder war ernst und zielstrebig, meine Schwester brav und angepasst und mein kleiner Bruder geschickt und fleißig. Ich wollte auch gerne alles richtig machen, eckte aber ständig an.

      Ich konnte die sorgenvollen Blicke meiner Mutter fühlen. Und mein Vater, der mich früher so viel angelächelt hatte, war nun oft wütend auf mich. Er konnte nicht verstehen, warum ich die Sachen nicht vernünftig hinkriegte, warum mein jüngerer Bruder schon vieles besser machte als ich. Und ich fand es ungerecht, dass ich für etwas bestraft werden sollte, was ich nicht mit Absicht falsch machte.

      Eines Tages, als ich abends spät von einer Erkundung nach Hause kam, empfing mein Vater mich wütend am Eingang zu der Garage im Haus. »Ich hatte dir doch deutlich gesagt, wann du zu Hause sein solltest!«

      »Ich wusste nicht, dass das wichtig ist, Baba.« Ich versuchte, an ihm vorbeizugehen.

      »Du sollst deine Hausaufgaben machen, nicht durch die Gegend streunen!« Mein Vater tobte.

      »Warum schreist du mich so an?« Damit machte ich die Situation nur schlimmer. Mein Vater zog die Augenbrauen zusammen und ich wusste, was kommen würde. Ohrfeigen gehörten für mich, wie für die meisten Kinder hier, zum Alltag. Aber diesmal traf mich der Schlag mit einer Wucht, dass ich aus dem Gleichgewicht geriet und rückwärts auf das Auto meines Vaters fiel. Völlig benommen griff ich mir an den Hinterkopf, hatte die Hand voller Blut und musste schon wieder ins Krankenhaus.

      Meine Wunde am Kopf wurde genäht. Sie heilte schnell, der Bruch zwischen mir und meinem Vater aber nicht. Ich war offensichtlich nicht mehr sein kleiner Wildfang, sondern ein missratener Balg. Wir gerieten immer häufiger aneinander und die körperlichen Auseinandersetzungen wurden heftiger.

      Mein großer Bruder ermahnte mich, nicht ständig den Zorn meines Vaters zu erregen, und meine anderen Geschwister bemühten sich, noch unauffälliger zu sein als sonst. Sie hielten Abstand zu mir, so als sei mein Zustand ansteckend. Nur meine Mutter stand mir bei. Wenn mein Vater zu sehr tobte, packte sie hastig unsere Sachen und verbrachte ein paar Tage mit mir bei ihren Eltern, bis mein Vater sich abgeregt hatte. Bevor wir wieder zurückgingen, ermahnte sie mich, mir mehr Mühe zu geben und meinem Vater besser zu gehorchen.

      Ich guckte mir regelmäßig muslimische Cartoons und Kindersendungen an und versuchte, mir alle Ermahnungen und Ratschläge gut einzuprägen. Und bei jedem Gebet flehte ich Gott an, mir den richtigen Weg zu weisen. Doch er schien mir eine besondere Prüfung auferlegt zu haben. So sehr ich mir vornahm, mich zu bessern, ich konnte mich nicht in einen Alltag aus Schule und Lernen einfinden.

      Aber so wenig die Schulbücher mich interessierten, so sehr fesselten mich muslimische Sachbücher und Jugendromane. Am liebsten las ich die Romane von Halit Ertuğrul. In seinen Erzählungen war die Hauptfigur immer eine verlorene Seele, die mit Hilfe des Glaubens wieder zurück auf den rechten Weg geleitet wurde. Der Prophet würde auch mir den Weg weisen.

       DIE LIEBENDEN

      Der kleine Gangster und ich kommen kichernd in der Wohnung an, die er zusammen mit seiner Cousine und ihrem Mann bewohnt.

      Er ist als Kind von einem Querschläger erwischt worden und hat erlebt, wie sein Wohnort in Schutt und Asche gelegt worden ist. Er wirkt hart mit seiner coolen Attitüde und den vielen Narben im Gesicht. Aber wenn wir zusammen sind, ist er albern und kindlich.

      Wir poltern kreischend in sein Zimmer, wo seine Freundin, die Schülerin, auf dem Sofa hockt und eine Serie guckt. Sie trägt ein weites T-Shirt und Jogginganzug und hat ihre langen blonden Haare auf ihrem Kopf zu einem Dutt hochgedreht.

      »Moin, wie geht es dir?«

      »Ich mache dir einen guten arabischen Tee«, sagt der kleine Gangster