Dimensionen, in Statistiken, nicht in Menschen. Das war schon immer so, dass die führenden Köpfe das Detail vernachlässigen mussten im Interesse des großen Ganzen. Der Blick aufs große Ganze darf nicht am Schicksal des einzelnen Menschen hängen bleiben, er muss übermenschlich, ja unmenschlich sein. Deshalb betrachtet der Experte die verstrahlten Landstriche, zuerst um Tschernobyl, jetzt um Fukushima, nicht als riesige Gebiete im Vergleich zum einzelnen Menschen, sondern als kleine Flächen im Vergleich zur, sagen wir mal, ganzen Erde oder zu unserem Sonnensystem oder zum Weltall. Den großen Geist zeichnet eine weite Perspektive aus.
Der einzelne Mensch, der sein verstrahltes Zuhause verlassen musste und jetzt in Notunterkünften vegetiert, verarmt, abgeschnitten von allem Vertrauten und möglicherweise krank, der einzelne Mensch, der hilflos ausgeliefert weiter atmen und weiter essen muss, was ihn möglicherweise umbringen wird, der einzelne Mensch hat nur ein einziges Leben. Wenn das verpfuscht ist, kriegt er kein anderes. Darum zählt für ihn nur seine subjektive Wahrnehmung, und er begreift oft gar nicht, dass objektiv gar nichts los ist, jedenfalls nichts, was wirklich zählt. Was wirklich zählt, bestimmt nicht der einzelne betroffene Mensch in seiner Betroffenheit, das bestimmen nicht betroffene Experten, die dank persönlicher Sorgenfreiheit den Überblick haben. Sie stellen zum Beispiel fest, dass die „Atomkraft entgegen der öffentlichen Wahrnehmung eine gute allgemeine Sicherheitsbilanz vorweisen“5 kann. Na bitte.
Die Kernenergie bleibt auch deshalb prinzipiell eine Erfolgsgeschichte, weil es nach Fukushima kaum noch belastete Lebensmittel gibt. Die einschlägigen Grenzwerte wurden ja nahezu weltweit angehoben. Dank dieser umsichtigen Maßnahme wird es künftig fast nicht mehr möglich sein, verseuchten Fisch zu konsumieren, weil kontaminierter Fisch zwar kontaminiert, aber nicht verseucht ist. Und falls doch, kann man die Grenzwerte weiter erhöhen, um der ungesunden Angst vor verstrahlter Nahrung entgegenzuwirken.
Im Übrigen sind die Experten gar nicht frei von persönlichen Sorgen. Sie sind sogar äußerst besorgt, wenn es um ihr persönliches Wohlbefinden geht.
4Japanisches Energieversorgungsunternehmen, dem das von der Katastrophe betroffene Kernkraftwerk Fukushima Daiichi unterstand.
5Yukiya Amano, Generaldirektor der Internationaen Atomenergiebehörde, laut Standard vom 12.3.2012
April
23
2012
Vergleiche
Wenn Menschen für Birnen mehr ausgeben als für Äpfel, sind Birnen dann das bessere Obst?
Darf man die Leistung einer Altenpflegerin mit der eines Maurers vergleichen? Ich habe es in meiner vorigen Kolumne getan und erntete dafür teilweise harsche Kritik. Weil, erstens: Der Maurer schuftet schwer. Das bissel Menschenheben der Altenpflegerin ist nix im Vergleich zur Arbeit am Bau, sagen die Kritiker des Vergleichs. Sie finden es deshalb mehr als gerechtfertigt, dass der Maurer mehr verdient. Mehr als die Altenpflegerin, wohlgemerkt.
Dass er höchstwahrscheinlich weniger verdient als sie beziehungsweise als andere, die ebenfalls nicht für körperlichen Einsatz bezahlt werden, finden sie in Ordnung. Schließlich gibt es ja auch noch andere Kompetenzen, die zählen. Zählen müssen.
Okay, die hat die Altenpflegerin vielleicht auch. Aber bei ihr zählen sie nicht, zumindest schlagen sie nicht zu Buche. So ist das eben: Die Altenpflegerin verdient weniger als der Maurer, der Maurer verdient weniger als der Supermarktfilialleiter, die Spitalsärztin verdient weniger als der Mittelbetriebsmanager.
Weil, zweitens: der Markt. Er entscheidet. Wenn er entscheidet, dass die Leistung der Altenpflegerin – und ja, auch die des Altenpflegers – wenig wert ist, dann müsse das eben hingenommen werden. Im Übrigen sei es unzulässig, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
Aber, Irrtum, genau darum geht es. Nämlich um die Frage, was uns Äpfel und Birnen – warum – wert sind, gewissermaßen. Denn wenn sich Menschen beispielsweise bereit zeigen, mehr Geld für Birnen auszugeben, dann bedeutet das nicht unbedingt, dass Birnen das bessere Obst sind. Kaufentscheidungen werden nicht rational, aufgrund streng objektiver Kriterien getroffen. Sie sind beeinflussbar. Und sie werden beeinflusst bis manipuliert.
Nein, keine Verschwörungstheorie. Sondern die Feststellung: Common Sense ist keine Eingebung einer höheren Macht. Preise werden gepusht, Löhne werden gedrückt, dahinter stehen Profitinteressen und nicht das heiße Bemühen um eine adäquate Bewertung von Qualität und Leistung. Deswegen ist auch kein Geschlechterkampf der ArbeitnehmerInnen angesagt, sondern gemeinsame Kritik am bestehenden Ungleichgewicht gefordert. Der freie Markt ist kein gerechter Gott, an dessen Ratschlüssen nicht gezweifelt werden darf. Marktmechanismen sind von Menschen gemacht, und sie sind beeinflussbar. Marktmechanismen haben was mit Gesellschaftspolitik zu tun, und Genderpolitik ist Gesellschaftspolitik.
Daher ist es sehr wohl zulässig, Berufe und Branchen miteinander zu vergleichen, und wenn sich herausstellt, dass Berufe und Branchen, in denen Frauen überwiegen, generell schlechter bezahlt werden, dann hängt das mit Rollenbildern und ihrer gesellschaftspolitischen Bewertung zusammen. Ja, auch der Altenpfleger verdient schlechter als der Maurer, weil er das weibliche Rollenbild bedient, das nicht so hoch im Kurs steht wie das männliche. Und das ist ebenfalls eine Ungerechtigkeit, die diskutiert werden muss. Denn es geht nicht, wie fälschlich behauptet, nur darum, ein paar Verbesserungen ausschließlich für Frauen herauszuschlagen, sondern darum, unser gesellschaftliches Gefüge neu zu überdenken.
Aus Dänemark schreibt mir ein Österreicher, Pflegewissenschafter sowie diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger: „Mein Einkommen hier in Dänemark liegt eindeutig weit über dem dänischen Medianeinkommen, während ich in Österreich ein Gehalt knapp unter oder direkt am (österreichischen) Medianeinkommen erhielt (inkl. Zulagen wie Nachtdienst oder Wochenende).“
Auch in Dänemark sind in der Krankenpflege überwiegend Frauen tätig. Aber, und das macht den Unterschied, nicht zu Dumpinglöhnen, weil der gesamte Bereich der Sozialarbeit dort ein höheres Ansehen genießt, das sich auch in höherer Bezahlung niederschlägt.
Das Gehaltsgefüge ist überdenk- und änderbar. Seit Jahren wird von einer notwendigen Neubewertung der Arbeit geredet, passiert ist jedoch allenfalls eine geringere Bewertung akademischer Qualifikationen, nicht aber eine – auch finanzielle – Aufwertung von Sozialberufen und persönlichen Dienstleistungen (die zum Teil mit hartem körperlichem Einsatz verbunden sind). Dass die Hacklerregelung nicht von Hacklern, sondern mehrheitlich von Beamten in Anspruch genommen wird, ist nur ein Indiz dafür, wie wenig gerecht es zugeht auf dem Sektor Leistung und Lohn. „Technisches Know-how schafft wirtschaftlichen Mehrwert“, schreibt mir ein Leser. Und fügt hinzu: „Um es provokant auszudrücken: Die Techniker bezahlen zu einem guten Teil über den Umweg des Staats die Altenpfleger.“
Ja, und zwar mit gutem Grund, weil AltenpflegerInnen nämlich gebraucht werden in unserer Gesellschaft. Die Finanzierung eines funktionierenden, halbwegs sozialen Staatswesens ist keine Frage von Gnade und Güte, sondern erfolgt aus der vernünftigen Einsicht in Notwendigkeiten.
Dass Gewinnmaximierung nicht alles ist, musste schon der alte Midas erfahren. Gold kann man nicht essen und nicht trinken. Gold redet nicht mit dir und füttert dich nicht, wenn du im Rollstuhl sitzt. Wenn du essen und trinken und getröstet und gefüttert werden willst, musst du von deinem Gold was abgeben.
September
10
2012
Im Cocktailschürzchen
Die 1960er werden zur Ära der heilen Familien verklärt.
Schwangere Teenager wurden in Heime verbannt und mussten unbezahlt Zwangsarbeit verrichten, um ihren Sündenfall zu büßen. Das war vor fünfzig Jahren, und es entsprach dem Zeitgeist. So waren die 1960er. Nicht