Russell West-Pavlov

AfrikAffekt


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dringend notwendige interkulturelle Brücken bauen können und zur längst überfälligen Versöhnung beitragen können.

      Neben Uwe Timms Morenga werden eine Reihe anderer Romane untersucht, um über den historisierenden diskursanalytischen Ansatz hinaus eine neue affekttheoretische Methodik zu erproben: angefangen mit Dietmar Beetz’ Flucht vom Waterberg (1989) über Giselher W. Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994), Gerhard Seyfrieds Herero (2003), Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003), Andrea Paluchs und Robert Habecks Der Schrei der Hyänen (2004) bis hin zu Hellmut Lemmers Der Sand der Namib (2014) und Bernhard Jaumanns Der lange Schatten (2015).

      Sowohl der kritische, distanzierende, ideologieentlarvende als auch der konstruktive, zusammenbringende Ansatz gehören zur Ausstattung der progressiven Literaturkritik. Nicht zuletzt, weil beide Aspekte immer bereits von der Belletristik selbst mobilisiert werden. Einerseits entfremdet der Text die Realität und dementsprechend das Selbstverständliche an der Realität, um soziopolitische Transformationen zu ermöglichen und voranzutreiben. Andererseits kommuniziert die Literatur gleichwohl mit der Leserschaft anhand emotioneller Identifikation, Empathie und Teilhabe sowie anderer nicht-kognitiver ästhetischer Reaktionen zwecks Transformation der Wahrnehmung, Subjektivität und Handlungsfähigkeiten der Leserschaft. Eine solche Doppelausstattung der Literaturkritik kann wiederum als Teil einer kritisch-konstruktiven Kulturpolitik verstanden werden, die ferner im Rahmen der allgemeinen Verständigung zwischen den Kulturen eingebettet werden und diese tatkräftig unterstützen soll.

      1.2 Thesen der Studie

      Die Witbooi-Bibel veranschaulicht im Kontext der kulturpolitischen Bestrebungen und Transformationen, die zur Rückgabe führten, die drei Hauptthesen der vorliegenden Studie zur Rolle des „Affekts“ im deutschsprachigen Roman der Gegenwart zum Thema Herero- bzw. Nama-Genozid 1904 bis 1908:

      Metahistorische Romane sind Texte, die gezwungenermaßen die Spannung zwischen Fakt und Fiktion besetzen. Und zwar nicht unbedingt ausschließlich mit dem Ziel, eine historische Wahrheit zu Tage zu fördern oder aufzuarbeiten, sondern eher, um die Verbindung zwischen einem bzw. einer Leser*in einer fiktiven Geschichte und einer „wahren“ Geschichte zu überprüfen. D. h. letztendlich zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu forschen. In den hier untersuchten Textbeispielen geht es darum, in welchem Verhältnis der bzw. die Leser*in mittels des Texts zum Deutsch-Namibischen Krieg und zum Genozid der Herero- bzw. Nama-Völker in Deutsch-Südwestafrika vor über hundert Jahren steht.

      Metahistorische Romane arbeiten auf den kognitiven Ebenen der Repräsentation, d.h. wie ein historischer Inhalt textuell dargestellt wird, und der Hermeneutik, d.h. wie der Rezipient der Darstellung diese Darstellung entschlüsselt bzw. interpretiert. Diese Ebenen entsprechen den Disziplinen der Diskursanalyse (Zima 1989) und der Rezeptionsästhetik (Jauß 1970). Allerdings arbeiten solche metahistorischen Romane nicht nur auf diesen zwei Ebenen. Sie wirken gleichzeitig auch auf der „affektiven“ Ebene, d.h. mit der Art und Weise, wie die Verbindung zwischen Text und Leser, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Romanfigur und interpretierendem Subjekt inszeniert und transformiert wird. Die Verbindung gilt dabei nicht als eine vorgegebene Größe, sondern stellt ein dynamisches Wirkungsfeld dar und bleibt als solches stets beweglich und unstabil. Der „Affekt“ meint hier, laut Spinoza (1972: 157), „die Erregungen des Körpers, durch welche das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Erregungen“; solche Änderungen des Tätigkeitsvermögens des Körpers werden durch die Tätigkeiten eines anderen Körpers erregt, so dass der „Affekt“ zwangsläufig die transformative Beziehung zwischen mindestens zwei Körpern bezeichnet. Im Rahmen dieser Studie wird ein erweiterter Affektbegriff vorausgesetzt und verwendet. Der „Affekt“ bezeichnet nicht nur Emotionen („Gefühle“) zwischen Menschen, sondern auch anderes „Gefühltes“: Solches, das nicht bewusst wahrgenommen wird, und ebenfalls solches, das zwischen nicht-menschlichen Körpern, auch nicht-lebendigen Körpern verkehrt, so dass jenes „Gefühltes“ nur anhand seiner Konsequenzen abgelesen werden kann. Der „Affekt“ ist überall wirksam als grundlegender Baustein der materiellen Realität in ihrer Dynamik (West-Pavlov 2019); er wirkt dank der räumlichen Nähe bzw. der materiellen Kausalität und bewirkt die Komplexität der „Emergenz“ der natürlichen Welt (Prigogine / Stengers 1980). Er ist wirksam auch im, um und durch den literarischen Text. Der literarische Text kann Affekte im engeren Sinne erwecken und daher im breiteren Sinne, im Rahmen anderer „Affektnetzwerke“, Effekte bewirken. Im Kontext der vorliegenden Studie geht es zum einen um eine radikal erneuerte Beziehung zur Kolonialvergangenheit. Einerseits zu Deutsch-Südwestafrika, der Kolonie, in der der Genozid stattgefunden hat, aber auch ganz konkret zum heutigen Namibia im Sinne einer Bewusstmachung der bestehenden Verhältnisse und Annäherung zwischen den Ländern im Zuge des aufkommenden Globalen Südens.

      In dieser Hinsicht bezeichnet der literarische „Affekt“ nicht nur die „Gefühle“, die anhand literarischer Figuren registriert oder beschrieben werden, oder die Gefühle, die vom Leser bzw. der Leserin bei der Lektüre empfunden werden, sondern primär die wirkungsgeschichtlichen Verbindungen sowie die daraus entstehenden Transformationen eines jeglichen Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dementsprechend beschreibt der literarische „Affekt“ ferner die wirkungsgeschichtlichen Verbindungen zwischen Subjekten in der Vergangenheit und Subjekten in der Gegenwart und schließlich die unergründlichen Innovationen, die in der Zukunft dadurch hervorgebracht werden können. Der „Affekt“ birgt daher das Potenzial für eine Veränderung der durch geschichtliche Ereignisse scheinbar vorbestimmten Verhältnisse. Der „Affekt“ beantwortet letztlich die Frage Bhabhas (1994: 212), „wie das Neue in die Welt kommt“. Er bildet eine Basis für einen textanalytischen und kulturpolitischen Ansatz, der die Geisteswissenschaften aus der Sackgasse der trotzdem nach wie vor unabdingbaren Diskursanalyse und der damit einhergehenden Ideologiekritik (vgl. z.B. Felski 2015; McDonald 2018) bringen kann, und welcher sich mit einem positiven Ausgangspunkt der grundsätzlichen Vernetzung und deren transformativer Wirkung verbindet.

      1.3 Struktur der Studie

      Der erste Teil der Studie besteht aus einer theoretischen Einleitung (Kapitel 2) und einer gegenwärtigen diskurspolitischen Kontextualisierung (Kapitel 3), die die Grundlagen für die anschließenden Textanalysen bilden.

      Im zweiten Kapitel werden die theoretischen Grundlagen gelegt. Hier dient zunächst Gerhard Seyfrieds Roman Herero (2003) als Folie für die theoretische Erörterung der Studie. Eingangs wird der allgemeine Kontext der heutigen Literaturwissenschaft skizziert, vor allem die gegenwärtige Multikrise, einschließlich der deutsch-afrikanischen Beziehungen, die zunehmend in das Blickfeld der Geisteswissenschaften gerät. Vor allem im Bereich der heute gängigen literaturwissenschaftlichen Ansätze, die meist historisch-kontextualisierend arbeiten, werden Desiderata aufgezeichnet, so dass der Bezug zum heutigen Moment oft verloren geht. Im Gegensatz dazu entwirft und erprobt die vorliegende Studie einen affektorientierten Ansatz, in dessen Zentrum ein erweiterter Affektbegriff steht.

      Im dritten Kapitel wird, nach einem einführenden Exkurs zum Familienroman Hellmut Lemmers, Der Sand der Namib (2014), eine ausführliche Analyse der Bundestagsdebatten zu den Beziehungen zu Namibia unternommen, um so das Fundament für die im zweiten und dritten Teil der Studie folgenden Analysen sechs weiterer belletristischer Fallstudien zu legen und sie in den heutigen Kontext einbetten zu können. Ausschlaggebend für diese Untersuchung ist weniger die sehr vorsichtige und ausschließlich „privat“ gemeinte Entschuldigung, die von der damaligen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul in Namibia 2004 ausgesprochen wurde, als vielmehr die Nähe zu den fast gleichzeitig stattfindenden Debatten im Bundestag über den Armenienvölkermord (Jelpke et al. 2015). Es zeigt sich, dass in vielen der herrschenden Diskursmuster Distanz, Gleichgültigkeit und Überheblichkeit, wie gegenüber den heutigen namibischen Verhandlungspartnern, spürbar sind, die in etlichen Hinsichten koloniale Züge aufzeigen.

      Der zweite Teil der Studie ist dem für diese Untersuchung als paradigmatisch geltenden Roman Uwe Timms aus dem Jahre 1978, Morenga (2000 [1978] / 2020 [1978]), gewidmet. Die Kapitel vier und fünf bauen auf die gegenwartsbezogene (geo-)politische Diskursanalyse der Bundestagsdebatte