Russell West-Pavlov

AfrikAffekt


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„Verfremdungseffekt“ erzeugt, sondern dass das Nebeneinander von Textfragmenten verschiedener Gattungen ein Modell liefert, welches das In-Bezug-Setzen von disparaten geschichtlichen Epochen und anscheinend auseinanderliegenden Völkern, Dingen und Lebensweisen konkret werden lässt. So entwirft Timms Roman auf dem Hintergrund des Deutsch-Namibischen Kriegs und des Herero- bzw. Nama-Völkermords ein Konzept für einen auf dem komplexen, dynamischen Gewebe des Lebens beruhenden erweiterten Affektbegriff.

      Im Anschluss an die Analyse von Morenga werden im dritten Teil der Studie fünf andere Romane aus drei Jahrzehnten untersucht, ausgehend von Dietmar Beetz’ Flucht vom Waterberg (1989) und Giselher W. Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994) (Kapitel 6), über Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003) (Kapitel 7) sowie Andrea Paluchs und Robert Habecks Der Schrei der Hyänen (2004) (Kapitel 8) bis hin zu Bernhard Jaumanns Der lange Schatten (2015) (Kapitel 9), um die verschiedenen Gestaltungsformen der affektiven Verbindungsmodi zur afrikanischen Vergangenheit bzw. Gegenwart darzulegen. Die affekttheoretischen Ergebnisse fallen insgesamt bei aller Komplexität der Texte ernüchternd aus, zeigen jedoch auf, inwiefern die Verwobenheit der zwei Kulturen trotz der Entfernung voneinander über ein Jahrhundert weiterbesteht.

      Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Morenga seiner Zeit weit voraus war und bis heute ist. Timm „hat […] den Roman nicht als Parabel auf seine Zeit angelegt, und so konnte und kann der Roman weit über seine Gegenwart hinausweisen“, so Habeck (2020: 474) in seinem Nachwort zur jüngsten dtv-Ausgabe des Romans. Timms Hauptfigur Gottschalk entwickelt eine starke affektive Verbindung zum Land Südwestafrika und zu seinen Bewohnern, kann dies jedoch nicht in eine grundsätzliche persönliche Haltung bzw. Lebenspraxis umsetzen – was zugegebenermaßen zu der Zeit, in der der Roman spielt, sowieso fast unmöglich gewesen wäre. Da wo Gottschalk als Figur scheitert, gelingt es aber Timms Text, ein Bündel affektbasierter Schreibstrategien darzubieten, die das kompensieren, was die Figur selbst nicht kann. Diese textuellen Strategien deuten – wohlgemerkt – bereits Mitte der 1970er-Jahre das an, was spätestens heutzutage aufgrund der zunehmenden Verflechtung der beiden Kontinente miteinander an positiven politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Strategien notwendig wäre, um die bestehende Distanz in eine genuine, gleichberechtigte Zusammenarbeit umzuwandeln. Der zukunftsträchtige Charakter der Timm’schen Strategien tritt umso stärker in den Vordergrund, je affektarmer die textuellen Strategien der nachfolgenden Fiktionen des Deutsch-Namibischen Kriegs ausfallen.

      Mit teilweiser Ausnahme von Jaumanns Krimi Der lange Schatten (2015) wird in den Texten eine große Distanz zu den dargestellten afrikanischen Bevölkerungen stillschweigend vorausgesetzt und durch die textuellen Strategien der Fiktionen aufrechterhalten. Beetz’ Flucht vom Waterberg (1989) verwendet einen Protagonisten, dessen hybride Identität eine affektive Anschlussstelle für den erzählerischen Einblick in die Welt der nicht-weißen Beteiligten am Deutsch-Namibischen Krieg bietet, solche Einfühlungsperspektiven jedoch in abstrakten Verbündnisträumen verpuffen lässt. Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994) ist von einem Deutsch-Namibier verfasst, so dass man von einer gewissen affektiven Nähe zu den afrikanischen Protagonisten ausgehen könnte. Diese Annahme ruht auf der empathischen Darstellung des Herero-Lebens, teilweise untermauert durch eine pseudo-autobiografische Stimme. Es bleibt aber bis zum Ende unklar, inwiefern das hier wortwörtlich verflochtene deutsch-namibische Schicksal ein residuales koloniales Wissen in Erscheinung treten lässt, das in eine unterschwellige Bejahung des Untergangs des Herero-Volkes mündet und auf diese Weise nicht dessen Ferne, sondern vielmehr dessen Abwesenheit postuliert. Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003), Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen (2004) und Lemmers Der Sand der Namib (2014) sind deutsche Familienromane, welche durch die generisch bedingte Selbstfokussierung auf die deutsche Seite jener „Verflechtungsgeschichte“ zwangsweise die afrikanische Seite mehr oder weniger ausblenden. In diesen Romanen bleibt Afrika weitgehend fernab der deutschen Realitäten von heute.

      Fazit: Morenga ist nicht grundlos nach wie vor bei der deutschen Leserschaft beliebt, wie die seit vier Jahrzehnten konstant bleibenden Verkaufszahlen und regelmäßigen Neuauflagen (zuletzt Anfang 2020 mit einem Nachwort von Robert Habeck) zeigen. Diese Beliebtheit beruht darauf, dass der Roman ein Publikum anspricht, das einer affektiven Beziehung zur Vergangenheit und Gegenwart Afrikas offen gegenübersteht, auch wenn er durch seine Montage-Technik keine leichte Kost ist. Bleibt Morenga vielleicht deshalb so erfolgreich, weil die affektive Arbeit, die der Roman leistet, nach wie vor ein Desiderat sowohl in der deutschsprachigen Belletristik als auch in der deutschen Außen- bzw. Kulturpolitik darstellt?

1. Teil: Theorie, Methode und Kontext

      2. Theoretischer und methodologischer Rahmen der Studie

      Im Jahr 2003, kurz bevor sich der Beginn des Deutsch-Namibischen Kriegs zum hundertsten Mal jährte, wurde Gerhard Seyfrieds knapp betitelter Roman Herero mit großer medialer Wirkung veröffentlicht. Auf die gebundene Ausgabe im Frankfurter Eichborn Verlag folgte 2004 eine Taschenbuchausgabe im Berliner Aufbau Verlag, was darauf hindeutet, dass der Roman ein Verkaufserfolg war. Der Roman präsentiert sich als penibel recherchierte und historisch genaue Wiedergabe des damaligen Geschehens (Seyfried 2003: 4; Thomma 2003) und evoziert somit zwangsläufig die ewige Frage des Verhältnisses von Fakt und Fiktion (vgl. Koschorke 2012; Roesch 2013). Herero löst jedoch seine Versprechungen in einem wichtigen Bereich nicht ein: Die titelgebenden Herero zeichnen sich durch Abwesenheit in weiten Teilen der Handlung aus. Diese auffällige Diskrepanz bietet einen fruchtbaren Einstieg in die Materie der theoretischen und methodologischen Fundierung der vorliegenden Studie.

      2.1 Seyfrieds Herero und die Unsichtbarkeit der Herero

      Seyfrieds Herero beeindruckt durch den Umfang von 600 Seiten und die Fülle an Material, die es erlaubt, den Deutsch-Namibischen Krieg in seiner Anfangsphase als quasi-welthistorisches Ereignis zu präsentieren. Der versprochene historische Wahrheitsgehalt wird durch verschiedene narrative Methoden unterstützt: Der Roman ist mit Landkarten (Seyfried 2003: Buchdeckel innen), Fotografien (ebd.: 119, 269, 334, 360, 361, 406, 431, 432, 468; allerdings nicht in der Taschenbuchausgabe von 2004), Skizzen (ebd.: 50, 154, 156, 198, 233, 330, 336, 350, 380, 382, 455, 494, 506, die ebenfalls in der Taschenbuchausgabe fehlen), Glossaren (ebd.: 594–601) und Quellenverzeichnissen (ebd.: 602–5) ausgestattet; der Text ist voll von Bezügen zu wahren Begebenheiten, geschichtlich belegbaren Orts- und Personennamen sowie technischen Beschreibungen: „Fast nichts an meinen Schilderungen ist fiktiv“, so Seyfried in einem Interview. „Es stimmt alles so weit wie möglich. Ich habe all die Jahre recherchiert und gut 250 Bücher durchgeackert. Die Figuren sind nahezu alle historisch“ (Thomma 2003).

      Angesichts des Anspruchs auf Historientreue und insbesondere des programmatisch anmutenden Titels ist es umso bemerkenswerter, dass die vermeintlich im Vordergrund stehenden Herero selten vorkommen. Ein Abschnitt des Romans Seyfrieds (2003: 200–1) mit dem Titel „Brandungsneger“ steht in außerordentlich scharfem Kontrast zum Beginn von Uwe Timms Morenga (2000 [1978]: 9 / 2020 [1978]: 9), in dem Gottschalk auf dem Rücken eines Eingeborenen durch die Brandung zum Strand getragen wird, und zu einer analogen Textstelle in Paluchs / Habecks Der Schrei der Hyänen (2004: 18). Da, wo Timm und Paluch / Habeck die affektive Reaktion Gottschalks bzw. Arabellas auf den intimen Kontakt zwischen den Körpern schildern (ausführlicher wird hierauf in den Unterkapiteln 5.3, 5.5.2 und 8.3 eingegangen), fällt bei Seyfried die völlige Abwesenheit der afrikanischen Träger ins Auge. Ausführlich geschildert wird jedoch die Neugier des Protagonisten Seelig, ob die „Brandungsneger“, die an Bord des Schiffs kommen sollen, tatsächlich sehr schwarzhäutig seien („Bloß braun wäre enttäuschend, aber so richtig schwarz, das muss seltsam aussehen“; ebd.: 201). Die afrikanischen Arbeiter erscheinen allerdings gar nicht. Sie kommen nicht einmal in Sichtnähe, geschweige denn in intimen körperlichen Kontakt mit den Deutschen. Gottschalks erste Auseinandersetzung mit einem solchen Körperkontakt („Er ekelte sich“; Timm 2000 [1978]: 9 / 2020 [1978]: 9) bahnt den Weg für eine Entwicklung hin zur Vertrautheit mit dem „Geruch nach Erde, Sonne und Wind“ seiner Nama-Geliebten Katharina (ebd.: 254 / 265); ähnlich funktioniert Arabellas Entdeckung, „daß sich die Haut anfühlte, als wäre sie weiß“ (Paluch / Habeck 2004: 18), als leise Andeutung auf die spätere Beziehung