Russell West-Pavlov

AfrikAffekt


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als abnehmen wird (Smith 2019; UNDP 2019), andererseits die zunehmende Bedeutung Afrikas für Europa im Hinblick auf Rohstoffe (Dennin 2013). Angesichts einer gegenwärtigen Wiederkehr der vergessenen (wenn nicht ganz unterdrückten) Nähe zu Afrika bezüglich der Themen „Demografie“, „Sicherheitspolitik“, „Ressourcen“ und „Klimamigration“ (vgl. Auswärtiges Amt 2019; Smith 2019; UNDP 2019) ist eine wieder relevant gewordene „Poetik der Relation“ (Glissant 1990) gefragt. Eine solche „Poetik der Relation“ könnte eine kreative Plattform bieten, auf der affektive Verbindungen zu Afrika wiederaufgebaut werden können. Zweck dieses Wiederaufbaus von affektiven Verbindungslinien wäre die Stärkung von gemeinsamer Handlungsfähigkeit zusammen mit einem Afrika, das lange Zeit bewusst von Europas Außengrenzen ferngehalten wurde. Ein solcher Wunsch ist keine utopische Träumerei, sondern benennt eine notwendige geopolitische Trendwende, die sich beispielsweise in den jüngsten „Afrikaleitlinien“ der Bundesregierung abzeichnet: „Das Wohlergehen Europas ist mit dem unseres Nachbarn Afrika untrennbar verbunden“ (Auswärtiges Amt 2019: 2). Mit Blick auf solche geopolitischen Entwicklungen ist es wünschenswert, dass im Bereich des ästhetischen Schaffens eine „Ästhetik der Proximität“ (West-Pavlov 2018) neben einer nach wie vor politisch notwendigen Ästhetik der kritischen „Distanz“ (Felski 2015) in Erscheinung tritt. An dieser Stelle macht die sokratische Tradition des kritischen Fragens Platz für eine genauso wichtige Philosophie des Antwortens, die auf einer gegenseitigen Nähe und „Responsivität“ basiert (Waldenfels 1994).

      Solch eine Ästhetik der Nähe ist von elementarer Wichtigkeit in einem Zeitalter, das von „bürgerlicher Kälte“ (Adorno 1971: 100–2) und einer „globalen Gleichgültigkeit“ (Neumann 2017) geprägt ist. Sowohl innerhalb der Grenzen Europas wie auch zwischen Europa und seinen nicht-europäischen Nachbarn herrschen wütende Diskriminierung bzw. Ausbeutung und eine erschreckende Gleichgültigkeit angesichts dieser Zustände.

      Zunächst lässt sich in Deutschland zunehmend ein Eindruck der Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts feststellen. Diesbezüglich sagt die Meinungsforscherin Renate Köcher über die 30- bis 59-Jährigen: „Wenn die mittlere Generation das gesellschaftliche Klima beschreibt, dann hat man das Gefühl, sie fröstelt“ (Mair 2018). Und Köcher weiter:

      Die mittlere Generation ist wie die gesamte Bevölkerung im Zwiespalt zwischen der wachsenden Zufriedenheit mit der materiellen Situation und dem Unbehagen über die Entwicklungen in Gesellschaft und Politik. […] Das gesellschaftliche Klima entwickelt sich nach dem Eindruck der mittleren Generation kritisch. Sie diagnostiziert vor allem […] zunehmende Vorbehalte gegenüber Ausländern; zunehmende Rücksichtslosigkeit und weniger Hilfsbereitschaft; weniger Zusammenhalt in der Gesellschaft. (Köcher 2018: 1)

      Diese weit verbreitete „bürgerlicher Kälte“ ist besonders ausgeprägt in Verbindung mit ausländischen Menschen, egal, ob sie sich noch in der eigenen Heimat befinden oder bereits in Deutschland eingereist sind.

      Eine solche „Kälte“ gegenüber Menschen ausländischer Herkunft manifestiert sich beispielsweise in den Parolen ausländerfeindlicher Gruppierungen in der deutschen Gesellschaft: „In Dresden skandierten Bürger bei einer Versammlung von Pegida ‚Absaufen! Absaufen!‘ im Chor. Sie meinten das Schiff Mission Lifeline, das voller Geflüchteter tagelang im Mittelmer herumirrte“ (Topçu 2018: 1). Angesichts des Ausmaßes der sich weiterhin im Mittelmeer abspielenden Tragödie (gestorben waren bis Ende September 2018 fast 2.000 Menschen [Missing Migrants 2018], 2017 waren es mehr als 5.000, 2016 mehr als 3.000 und 2015 fast 4.000 [IOM 2016; IOM 2018]) eine erschreckende Gleichgültigkeit. Bezeichnend für diese Art „bürgerlicher Kälte“ steht die Aussage des damaligen südafrikanischen Justizministers Kruger zum Foltertot des „Black Consciousness“-Anführers und Anti-Apartheidaktivisten Steve Biko: „Dit laat my koud“ [„Das lässt mich kalt“] (zitiert nach Woods 1987: 214). Noch weiter zurück, zwar in der fiktiven Geschichte, jedoch ungefähr zeitgleich mit der Aussage Krugers, liegt Timms Beschreibung (2000 [1978]: 234 / 2020 [1978]: 244) des Offiziers der deutschen Schutztruppen Deimling als „kühl-distanziert“ gegenüber den afrikanischen Opfern. Solche „ungrievable lives“ (Butler 2004; 2009) sind per Definition die Leben derer, die von „uns, hier“ weit entfernt sind. Allzu oft sind das afrikanische Leben. Dazu kommentiert Achille Mbembe in Bezug auf Afrika, unseren Nachbarn:

      Dans maints régimes modernes du discours et dans la connaissance, le terme „Afrique“ évoque presque automatiquement un monde à part; un monde avec lequel beaucoup de nos contemporains éprouvent de la difficulté à s’identifier; une réalité dont ils ne savent parler que sous une forme lointaine et anecdotique […] Pourquoi? Parce que, à leurs yeux, la vie en Afrique n’est jamais la vie humaine toute courte. Elle apparaît très souvent comme la vie d’autres gens dans quelque autre lieu, ailleurs. (Mbembe 2017b: 382)

      Das Prinzip der „Entfernung“ und der „Distanz“ liegt dem Kolonialunternehmen und dem „Anspruch der Ansiedler, daß die ‚soziale Distanz‘ und das ökonomische Interesse mit allen Mitteln der Selbstjustiz durchgesetzt werden dürften“ (Bley 1968: 298), zugrunde. In den heutigen Einstellungen treten jene affektiven Strukturen der kolonialen „Distanz“ bzw. der „Kälte“ erneut zu Tage – an versetzten Orten, aber mit in vielerlei Hinsicht wesentlich unveränderten Inhalten. Bezüglich der ausweichenden Redewendungen, die von der Staatsministerin Pieper anlässlich der Übergabe menschlicher Überreste namibischer Provenienz 2011 verwendet wurden, notieren Kößler und Melber (2017: 65), dass „[d]ie Umstände des Todes der Menschen, deren Leichen im Dienste einer fragwürdigen Wissenschaft zerfleddert wurden, […] in dieser bürokratischen, offenbar vorgestanzten Sprache, die ständig auf die gleichen ungelenken Wendungen zurückfällt, nicht der Rede wert [erscheinen]“ – stattdessen manifestieren die neutralen Floskeln nur „Kühle, ja eisige Distanz“. Auch Wieczorek-Zeul (2017: 10) nennt die Formulierungen „respektlos und ohne jede Empathie“. Durch die Wortwahl sollte sowohl menschliche wie geschichtliche Nähe, die eine gefährliche, geschichtlich-moralische Verantwortung samt möglichem Handlungsdruck mit sich hätte bringen können, vermieden werden.

      Man darf jedoch nicht vergessen, dass auf dem Höhepunkt der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015, die eine nennenswerte Zahl Afrikaner*innen nach Deutschland brachte, auch eine Welle „bürgerlicher Nähe“ in Erscheinung trat. In Deutschland allein engagierten sich ca. sieben Millionen freiwillige Helfer*innen (Bade 2016: 73, 76) – d.h. fast zehn Prozent der Bevölkerung war die Situation der neu angekommenen Geflüchteten nicht gleichgültig. Mit einem Blick in die Vergangenheit könnte man an die „Solidarität“ vieler DDR-Bürger mit dem Befreiungskampf der SWAPO denken, die „[b]ei aller zentralistischen Steuerung […] vielen Menschen eine Herzenssache“ war:

      Aus dieser Zeit bestehen weiterhin persönliche Freundschaften. Selbst ein ehemaliger hoher SWAPO-Funktionär, der später als Führer der oppositionellen SWAPO-Demokraten wahrlich keiner Sympathien für die sozialistischen Länder verdächtig ist, erwähnt die Herzlichkeit und Wärme, die ihn in der DDR empfing, die er damals als „zweite Heimat“ empfand.

      Die „zahlreichen persönlichen Bindungen“ zwischen DDR-Entwicklungsarbeiter*innen und SWAPO-Mitgliedern, die in vielen Fällen noch bestehen, zeugen von einer Nähe zu Afrika, die über die Grenzen des Kalten Kriegs hinausgeht und bis in den heutigen Kontext reicht (Schleicher 2006: 126). Jedoch auch diese sehr erfreuliche Solidarität schrumpfte innerhalb relativ kurzer Zeit wieder zugunsten der erneut wachsenden Fremdenfeindlichkeit (Emnid 2017).

      Im Deutschland der Jetztzeit findet diese Verschiebung weiterhin statt bzw. nimmt mit steigender Ablehnung gegenüber allen Ausländern, Migranten und Geflüchteten weiterhin zu (Decker / Brähler, Hg. 2018).

      Das Phänomen der „Kälte“ und „Distanz“ ist nicht nur eine Sache der politischen Lager von Mitte und rechts bzw. der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten, sondern spiegelt sich auf höchster staatspolitischer Ebene wider. Die aktuelle Afrika-Politik Deutschlands ist ausschließlich auf die Bekämpfung von sogenannten „Fluchtursachen“ ausgerichtet. Das heißt, die vermeintliche Annäherung an Afrika, die in letzten Jahren umjubelt wurde, ist zum Teil nur eine Fassade für eine Strategie des Auf-Abstand-Haltens.

      Der Wunsch nach Abstand geht klar aus den Formulierungen