Russell West-Pavlov

AfrikAffekt


Скачать книгу

vereinte Deutschland mit neuem Selbstbewusstsein als politischer Akteur auf die internationale Bühne, unter anderem verkörpert durch die Amtszeit Joschka Fischers als deutscher Außenminister 1999 bis 2005. In diesem Kontext erwuchs ein neues Interesse an Deutschlands weltgeschichtlicher Vergangenheit – einschließlich der Kolonialvergangenheit, die in den vorhergegangenen Jahrzehnten weitgehend in Vergessenheit geraten war.

      Dieser Eindruck einer Epoche des Friedens war jedoch nur von kurzer Dauer. Das damit verbundene Interesse an der globalen Vergangenheit Deutschlands war ähnlich limitiert. Loimeier (2004) dokumentiert mit Recht den „hierzulande auf vergleichsweise großes Interesse stoßende[n] Aufstand der Herero und Nama“, der die sehr erfolgreiche Rezeption von Seyfrieds Romans zumindest teilweise erklärt. Loimeier zufolge „mag [dies] damit zusammenhängen, dass der […] Aufstand der Herero und Nama noch nicht aus der Sicht eines schwarzafrikanischen Autors thematisiert wurde“. Ein „wenig entwickelte[s] […] Bewusstsein vom Zusammenhang zwischen deutscher Reichsgründung und der langfristig imperialen Politik Deutschlands“ mündet allgemein in eine „deutsche Geschichtsvergessenheit“, woran „das Deckmäntelchen eines oberflächlichen Interesses am Herero-Aufstand“ leider nicht viel Grundlegendes änderte. Auch die teils eurozentrische Fokussierung auf den Holocaust, worauf später detaillierter eingegangen wird, trug dazu bei. Wesentlich für diese nicht-problematisierende Sicht der Kolonialvergangenheit ist Seyfrieds bereits erwähnte Ausblendung des Völkermords an den Herero und Nama. Die direkte Beteiligung der Romanprotagonisten am Deutsch-Namibischen Krieg endet vor der Vertreibung in die Omaheke-Wüste, so dass Seyfried den Genozid weitgehend erzählerisch umschiffen kann (Hermes 2009: 237). Ferner stellt der Text in Frage, ob die Vernichtung durch das Verdursten bzw. Verhungern in der Wüste – das Hauptkriterium des Völkermords also – überhaupt beabsichtigt war (Seyfried 2003: 565) und versucht, die Verantwortung für das Sterben auf die Opfer zu übertragen, indem er behauptet, sie hätten die angeblich zur Verfügung stehenden Fluchtwege aus der Wüste nicht genutzt: „[D]a geht es um 400 km oder mehr in wasserloser Wüste, da kann man ja keine Postenketten hinstellen“ (ebd.: 564). Petrus beispielsweise, der als zentrale Fokalisierungsfigur der angeblich afrikanischen Perspektive der Erzählung gilt, schafft es ohne Mühe aus der Wüste zu entkommen (ebd.: 574).

      Diese Beschönigung der Geschichte des kolonialen Genozids ist nicht vollkommen deckungsgleich mit der allgemeinen Auffassung einer Epoche nach dem zunächst anscheinend endgültigen Ende des Kalten Krieges und den daraus resultierenden wirtschaftlich-politischen Polaritäten. Sie steht aber dennoch im Einklang mit einer überwiegend affirmativen Auffassung der weltgeschichtlichen Stimmung, in der beispielsweise die Kosten des Übergangs in den globalen Neoliberalismus für die Bevölkerungen der einst sozialistischen Länder kaum Erwähnung fanden (vgl. Ther 2016) oder in der die jugoslawischen Nachfolgekriege von 1991 bis 2001 mit dem Massaker bzw. Genozid von Srebrenica 1995, dem schwersten Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs, lediglich als vorübergehende Aberration wahrgenommen werden konnte. Bezeichnend in diesem historischen Kontext war der Besuch Helmut Kohls in Namibia 1995, während dessen er es vermied, den Völkermord an den Herero bzw. Nama überhaupt zu erwähnen oder sich mit Vertretern der Opfer zu treffen (Jamfa 2008: 202). Stattdessen betonte er „die besonderen Verdienste der Deutschsprachigen bei der Entwicklung des Landes“ (Zimmerer 2019: 24). Drei Jahre später sprach der damalige Bundespräsident Roman Herzog während seines Namibia-Besuchs 1998 lediglich von „eine[r] kurze[n] Periode gemeinsamer Geschichte, die nicht sehr glücklich war“ (Herzog 1998). Zwar räumte er ein, dass „das Verhalten der Deutschen […] nicht in Ordnung“ war, behauptete jedoch, „[e]ine Entschuldigung […] sei nur eine Worthülse, die mehr schade als nutze. Außerdem liege das Ereignis allzu lange zurück“ (Pech 1998). Stattdessen sorgte er sich um die „Pflege der deutschen Sprache“ als Minderheitssprache in Namibia (Herzog 1998). In dem Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Kriegs rückte die Kolonialvergangenheit so zwar in Sichtnähe, wurde in der deutschen Bundespolitik jedoch kaum ernst genommen, geschweige denn problematisiert.

      Diese Epoche endete mit den New Yorker Al-Qaida-Anschlägen vom 11. September 2001 und dem bald darauf eingeleiteten Krieg im Irak. In diesem Augenblick, in dem eine sogenannte „Koalition der Willigen“ im „Krieg gegen den Terror“ mobilisiert wurde, lies sich nicht vorausahnen, dass dies der Ausbruch eines bis heute anhaltenden „globalen Bürgerkrieg[s]“ (Berardi 2016) sein sollte. Die Ausblendung des Genozids an den Herero bzw. Nama in Seyfrieds Roman kann in diesem Zusammenhang nicht nur als Symptom des historischen Unwissens über die Vergangenheit gelesen werden, sondern steht auch für das bewusste Ausblenden einer globalen Konfliktlage, deren Konturen mit den Kriegen im Irak und in Afghanistan, mit der Etablierung des Guantanamo-Lagers im Januar 2002 und der gleichzeitigen Aufnahme der „Renditionsflüge“ (vgl. Bartelt / Muggenthaler 2006; Luftpost 2006) sowie dem späteren „Drohnenkrieg“ ab 2004 (Amnesty International 2018: 6–7, 51–61; siehe auch Chamayou 2015), beides unter wesentlicher Beteiligung Deutschlands, erst allmählich klar wurden. Die Kluft zwischen der „deutsche[n] Brille vom Krieg in Namibia [gemeint ist Deutsch-Südwestafrika]“ und der „andere[n] Seite der Medaille – also [der] Perspektive der Nama und Herero“ (Loimeier 2004), die dem Roman Seyfrieds strukturell zugrunde liegt, steht so stellvertretend für eine anhaltende Kurzsichtigkeit bezüglich der globalen Situation, in der der Krieg gegen den Terror hauptsächlich auf Kosten von Bevölkerungen im Globalen Süden geführt wird (vgl. z.B. Save the Children International 2019). Im Laufe der 2000er-Jahre wurde jedoch immer mehr mediale Aufmerksamkeit auf die anfangs unbeachteten Opfer des Kriegs gegen den Terror gelenkt. Ab 2001, mit dem Ausbruch des bis heute andauernden Bürgerkriegs in Syrien, der 2015 die sogenannte „Flüchtlingskrise“ in Europa und insbesondere in Deutschland auslöste, wurde endgültig klar, welche Konsequenzen die eng miteinander verbundenen Facetten des globalen Kriegs gegen den Terror für Europa hatten. Diese Erkenntnis wurde weiter gestärkt durch eine Reihe von ISIS-Terroranschlägen in Deutschland 2016 und 2017. Zudem wurden durch die ablehnenden Reaktionen mancher osteuropäischer Staaten gegenüber einer gemeinsamen EU-Politik nach 2015, die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und den Brexit-Volksentscheid 2016 sowie die Wahl Jair Bolsonaros zum brasilianischen Präsidenten 2018 unmissverständlich sichtbar, wie instabil das globale politische System geworden war. Allmählich ging dieses aufkommende Bewusstsein für die global vernetzten Dimensionen der Konflikte in die zunehmende Wahrnehmung der bereits seit Jahren von Wissenschaftler*innen angekündigten Klimakatastrophe über – einer Katastrophe, die nun nicht mehr ausschließlich als „eine ökologische Herausforderung für die Menschheit“ verstanden wird, sondern, in den Worten des deutschen Außenministers Heiko Maas (2019) vor der UN-Generalversammlung, „immer öfter [als] eine Frage von Krieg und Frieden“. Schrittweise wird sichtbar, dass die heutige Krise in einem historischen System von Kolonialismus und Imperialismus wurzelt, das nicht nur globale Ungleichheiten, sondern auch planetare Zerstörungen hervorgebracht hat (Brand / Wissen 2017). Die seit der Jahrhundertwende aufflammende globale Krise mit ihren mannigfaltigen Aspekten konnte in den 1990er-Jahren in ihren heutigen, erschreckenden Ausmaßen nicht vorhergesehen werden (vgl. Kennedy 1997). Die Unfähigkeit, in die Zukunft zu blicken und die erschreckenden globalen Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte zu erahnen, ist eine tatsächliche Unfähigkeit. Rückblickend das volle Ausmaß der kolonialen Gewalt der deutschen Vergangenheit und deren langfristige Auswirkungen zur Kenntnis zu nehmen, jedoch eine gewollte. Seyfrieds Herero ist durch die Art und Weise, wie der Text die im Titel angekündigte Fokussierung der Erzählung doch verfehlt, ein negatives Bespiel für einen Historismus manqué, dessen Blindheit für die Gegenwart und unmittelbar bevorstehende Zukunft nun vollends offensichtlich wird. Der Roman kann daher als Ansporn fungieren an eine Lektüre der jüngsten literarischen Darstellungen des Deutsch-Namibischen Kriegs nicht nur historisch-kontextualisierend, sondern auch gegenwartsorientiert und daher mit einem geschärften Bewusstsein für lebendige Verbindungslinien heranzugehen.

      In diesem Sinne untersucht die vorliegende Studie diejenigen literarischen Strategien, die die heutige Herero-Fiktion dazu befähigen, eine affektive Verbindung zu Ereignissen und Subjekten herzustellen, die sowohl zeitlich als auch geografisch weit von unserer Gegenwart entfernt sind. Um dieses Projekt voranzutreiben, wird eine Neuauflage des Jauß’schen Ansatzes der Rezeptionsästhetik unternommen. In Literaturgeschichte als Provokation (1970) nimmt Jauß die historischen „Erwartungshorizonte“ sukzessiver Momente der Textrezeption