Russell West-Pavlov

AfrikAffekt


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Germanistik in Richtung „transkultureller“ (anstatt „postkolonialer“) Studien, postkolonialer Ökokritik sowie eine rigorosere Erforschung der Überlappungen zwischen NS-Zeit und kolonialem Erbe (Dürbeck 2014: 68–70) ab. Diese Desiderata sind zweifelsohne allesamt begrüßenswert, stellen aber nur minimale Erneuerungen des literaturkritischen Betriebs im Bereich der postkolonialen Germanistik dar. Die weitere Beschäftigung mit den Verbindungen zwischen kolonialen Praktiken und der „Kolonialpolitik“ der NS-Epoche knüpft lediglich an eine bestehende Tradition an, die faktisch bereits mit der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer / Adorno 1971) beginnt. Der vermeintliche Richtungswechsel weg von den postkolonialen hin zu den transkulturellen Studien weist auf eine Paradigmenerschöpfung hin, die jedoch im Grunde einen „Theorieimport“ aus dem englischsprachigen Bereich darstellt und nicht viel mehr als eine Entpolitisierung der postkolonialen Impulse der Germanistik bewirkt. Lediglich die Wende zur postkolonialen Ökokritik, welche auch die Gefahr einer Entpolitisierung birgt, deutet auf die Möglichkeit eines Andockens an die Gegenwart und die allgegenwärtige Bedrohung des Klimawandels, die eng mit der kolonialen bzw. imperialen Geschichte des Kapitalismus zusammenhängt (Klein 2016). Auch sonst bewahren sämtliche im Sinne Dürbecks zu einer Erneuerung der postkolonialen Germanistik aufzugreifenden Impulse einen vorsichtigen Abstand zur Gegenwart und ihren Akteuren.

      Das in der euroamerikanischen Literaturwissenschaft weitgehend vorherrschende Primat des Historismus sorgt für einen Sicherheitsabstand zwischen dem wissenschaftlichen Subjekt und dem Objekt der Wissenschaft, für ein „contextualising which is also, and more fundamentally, a containment“. Es handelt sich häufig um einen „historicism which removes the [literary text] to a safe distance, to a place where [the text’s historical] difference can’t really challenge us“ (Dollimore 2013: xvi). Dollimores Aussage ist sicherlich absichtlich überspitzt formuliert, stellt aber die dringende Frage der Relevanz der auf die Vergangenheit ausgerichteten Geschichtswissenschaften zur Debatte. Die gängige Antwort auf diese Frage, die Geschichte liefere wichtige Lehren für die Zukunft, überzeugt jedoch angesichts der schieren Geschwindigkeit gegenwärtiger Transformationen der globalen Lage immer weniger. Die Gegenwart zeichnet sich aber durch eine ungeheuerliche Beschleunigung sowohl des sozioökonomischen Lebens (Rosa 2005, 2013) wie auch des geradezu chaotischen globalen Zerfalls aus, vor allem in Sachen Entdemokratisierung (Kurlantzick 2013; Runciman 2018a) sowie stetig steigender Gefahren im Zuge der Erderwärmung (Jones 2017; Mann / Wainright 2017). Der Klimawandel findet statt unter Bedingungen, die durch positive Feedback-Schleifen oder kaskadierende Beschleunigungsprozesse gekennzeichnet sind (Wallace-Wells 2019): „The climate crisis […] is accelerating faster than most scientists expected“ (Ripple et al. 2019: 2); „Der Klimawandel ist schneller als wir“ (Guterres 2019). Daraus entsteht eine planetare Gesamtlage, für die es keinen historischen Präzedenzfall gibt:

      The rates of system changes associated with limiting global warming to 1.5° with no or limited overshoot have occurred in the past within specific sectors, technologies and spatial contexts, but there is no documented historic precedent for their scale (IPCC 2018: 21).

      Die Tatsache, dass „die Temperaturen überall auf der Welt und gleichzeitig steigen“, umgerechnet „auf 98 Prozent der Erde“, so jüngste Studien, „ist ein starker Hinweis, dass die von Menschen verursachte globale Erwärmung beispiellos ist“ (Marks 2019, in Bezug auf Neukom et al. 2019). Und auch in Bezug auf Klimawandelfakten, wie die gerade genannten, muss festgehalten werden, dass sie meist zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bereits überholt und nicht mehr aktuell sind (Gooding 2019: 35; Morton 2019: 13). Mit anderen Worten: Die Vergangenheit liefert heutzutage nur bedingt verwertbare Lehren für die Zukunft. Deshalb kann der rückwärtsgerichtete Blick des Historismus der Gegenwart und vor allem der nahen Zukunft, insbesondere in Bezug auf die rasanten Änderungen in der postkolonialen Welt bzw. im Globalen Süden, kaum gerecht werden.

      Die daraus entstehende Notwendigkeit einer Wende literaturwissenschaftlicher Methoden im Allgemeinen und der postkolonialen Literaturwissenschaften im Besonderen und hier speziell im Kontext der Aufarbeitung des Deutsch-Namibischen Kriegs sowie des Genozids an den Herero bzw. Nama wird durch die Tatsache untermauert, dass in der jüngsten Zeit so gut wie keine neuen Arbeiten zu letztgenanntem Thema erschienen sind. Das Paradigma des literaturwissenschaftlichen Historismus hat sich gewissermaßen erschöpft. Im Zuge der hundertjährigen Erinnerung an den Völkermord erschienen einige Arbeiten zum literarischen Diskurs der Kolonialepoche mit Bezug zum Deutsch-Namibischen Krieg (Brehl 2009: 101–42; Wassink 2004). Die Monografie von Hermes (2009) erweiterte den diesbezüglichen Kanon literarischer Texte bis in die Gegenwart. Bezeichnend ist jedoch, dass seit ihrem Erscheinen keine weiteren Veröffentlichungen von Bedeutung zu diesem spezifischen Thema veröffentlicht wurden. Es ließe sich vermuten, dass das Paradigma der „koloniale[n] Diskursanalyse“ (vgl. Chrisman / Williams, Hg. 1994), bei aller wissenschaftlichen Bedeutung, erst einmal in seiner Nützlichkeit ausgeschöpft ist. Genau dies scheint paradoxerweise die erstaunlich detaillierte, ja geradezu enzyklopädische Monografie von Göttsche (2013) zum Thema „Afrika in der Gegenwartsliteratur“ zu belegen. Seine Studie vermittelt durch die Methodik der panoramaähnlichen Überblicksliteraturgeschichte den Eindruck, dass das Feld als mehr oder weniger abgeschlossenes Gebiet betrachtet werden kann. Das Versiegen der literaturwissenschaftlichen Produktion zu diesem Thema mag auch daran liegen, dass die einschlägigen geschichtlichen Jubiläen (2004, 2009 usw.) immer länger zurückliegen, so dass die oberflächliche Brisanz der Thematik rapide abnimmt. Ferner liegt die Vermutung nahe, dass das Thema auch unter der allgemeinen Krise der „postkolonialen Studien“ leidet, denen seit Jahren eine „potenzielle Erschöpfung“ diagnostiziert (Yaeger in Agnani et al. 2007: 633) und deren „Jenseits“ eruiert (Jain 2006; Loomba et al., Hg. 2007; San Juan 1999) wird. Ob das Schwinden der literaturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit für das damalige Deutsch-Südwestafrika ein Symptom einer breiteren Paradigmenkrise ist, sei jedoch dahingestellt. Die Gründe sind vermutlich verwandter Natur und liegen im Schwinden eines auf Distanz basierenden literaturwissenschaftlichen Ansatzes (Jameson 1992: 48).

      Gleichzeitig erscheinen jedoch weiterhin Studien zu einzelnen Autoren wie Uwe Timm (Almstadt 2013; Basker, Hg. 1999; Ott 2012), so dass man annehmen kann, dass der Leserbezug zu solchen Texten nach wie vor lebendig bleibt. Timms Morenga (2000 [1978] / 2020 [1978]) findet immer noch eine breite Leserschaft, was durch die Neuauflage der KiWi-Taschenbuchausgabe 2015 und den Druck der 15. Auflage der sehr weit verbreiteten dtv-Taschenbuchausgabe 2017 belegt ist. Die Erscheinung einer neuen dtv-Ausgabe 2020 mit einem Nachwort von Robert Habeck hebt die Bedeutung des Werkes noch zusätzlich hervor. Solche Phänomene stehen keineswegs im Widerspruch zum anscheinend abnehmenden literaturwissenschaftlichen Interesse an belletristischen Darstellungen Deutsch-Südwestafrikas. Der anhaltende Erfolg von einzelnen Texten wie Morenga deutet darauf hin, dass nicht nur ein kognitives Interesse, sondern darüber hinaus ein affektiver Bezug sowohl zum Stoff wie auch zum textuellen Umgang mit diesem besteht. Weder das Thema und die kritische Auseinandersetzung mit diesem beim lesenden Publikum noch die Texte dazu sind überholt. Die Evidenz der Verkaufszahlen und die Vielfalt der Texttypen der in den letzten Jahren zum Thema erschienenen Romane, die in der vorliegenden Studie untersucht werden, untermauern dies. Zu nennen sind hier der historische Roman (Hoffmann, Die schweigenden Feuer, 1994; Seyfried, Herero, 2003), die Autobiografie bzw. der Familienroman (Wackwitz, Ein unsichtbares Land, 2003), das Familiendrama (Paluch / Habeck, Der Schrei der Hyänen, 2004) oder der Krimi (Jaumann, Der lange Schatten, 2016). Teilweise, wenn nicht gänzlich, verjährt sind hingegen die herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Zugänge zu den Texten. Umso deutlicher wird, dass hier neue, zusätzliche Ansätze gefragt sind, um jenseits von historisch-kontextualisierenden Studien in der Tradition der kolonialen Diskursanalyse aktuelle und passendere Interpretationszugänge zu jenen nach wie vor brisanten Fiktionen zu finden. Auch die kritische Einstellung zum Thema Deutsch-Südwestafrika besteht weiterhin über eine affektiv-moralische Verbindung, die es anhand einer Lektüre des paradigmatischen Texts Morenga (Timm 2000 [1978] / 2020 [1978]) neben einigen anderen oben genannten Romanen in der vorliegenden Studie zu untersuchen gilt.

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