Franz Rosenzweig

Luther, Rosenzweig und die Schrift


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lassen und den Leser ihm entgegen bewegen, und in solche, die den Leser möglichst in Ruhe lassen und den Schriftsteller ihm entgegen bewegen1. Wir wissen nun nach dem Vorhergesagten, daß diese blendende Antithese, insofern sie ernstlich Antithese hatte bleiben wollen, wirklich nur blendend war. Denn wenn sie mehr sein wollte als die antithetisch klärende Aufhellung einer vielfältig verflochtenen und vermischten und nie antithetisch geschiedenen Wirklichkeit, dann wäre ja das Ideal einer Plato-Übersetzung entweder eine Teubnersche Textausgabe oder Kants Kritik der reinen Vernunft. Aber vernünftig aufgefaßt, nämlich nicht als ein Entweder-Oder, sondern als ein Mittel zur Entmischung der gemischten Wirklichkeit, kann jenes Schleiermachersche Wort uns in unsre Untersuchung hineinleiten und eine Strecke lang begleiten. Es kann uns lehren, die Frage nach dem Mischungsverhältnis zu stellen; und wenn diese Frage, die wie alle quantitativen Fragen sehr wichtig, aber, wie ebenfalls alle quantitativen Fragen, nur eine Vorfrage ist, ihre Antwort gefunden hat, kann es uns an die eigentliche Frage heranführen: an welchen Punkten des Werks der Leser und an welchen Punkten das Original „bewegt“ wird. Die bloße Nennung der wirkenden Kräfte sagt hier wie stets noch gar nichts; die Feststellung ihres quantitativen Verhältnisses sagt hier wie stets zwar etwas, aber nur wenig; erst die Beschreibung der Punkte, wo die eine ansetzt und wo die andere, gibt ein Bild.

      II

      Die Gründe nun oder vielmehr der Grund, aus dem Luther seinem deutschen Leser zuweilen zumutet, „der hebräischen Sprache Raum zu lassen“ und „solche Worte zu gewohnen“, wird ganz deutlich aus einer Stelle jener Psaltervorrede, die ich deshalb trotz ihrer Länge ungekürzt hersetze:

      Auf solche Weise hat S. Paulus Lust zu reden, wenn er spricht: ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben. Item, Christus hat die Sünde durch Sünde verdammt. Item, der Tod ist durch Christum getötet. Das sind die Gefängnisse, die Christus gefangen und weggetan hat, daß uns der Tod nicht mehr halten, die Sünde nicht mehr schuldigen, das Gesetz nicht mehr das Gewissen strafen kann, wie S. Paulus solche reiche, herrliche, tröstliche Lehre allenthalben treibt.

      Darum müssen wir zu Ehren solcher Lehre, und zu Trost unsres Gewissens, solche Worte behalten, gewohnen, und also der hebräischen Sprache Raum lassen, wo sie es besser macht, denn unser Deutsch tun kann.“

      III

      Sprachen können jahrhundertelang schon von Schrift begleitet sein, ohne daß das entstünde, was man mit einem sehr sonderbaren Wort als „Schriftsprache“ bezeichnet. Wohl bildet sich die Schrift überall bald Formen des sprachlichen Ausdrucks, die ihrer eigenen Umständlichkeit ent-sprechen, aber außerhalb der schriftbeherrschten Lebenskreise bleibt die Sprache frei und triebkräftig. So wie ein Schulkind zwar in der Schule selbst das Sprechen verlernt, aber zu Hause schwatzt es noch drauflos. Erst wenn es die Lesewut bekommt, spätestens also wenn es Zeitungen zu lesen anfängt, ist seine Sprachkraft ins Joch gespannt. Von da ab braucht der Mensch eine besondere Erregung, um nicht so zu sprechen wie er oder vielmehr wie man schreibt. So kommt auch im Leben