Franz Rosenzweig

Luther, Rosenzweig und die Schrift


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kommt noch ihre kirchliche. Sie ist beschränkter als jene, die in ihren mittelbaren Wirkungen – deutsche Klassiker und Mythos des „Biblischen“ auch den katholischen, auch den jüdischen Volksteil ergriffen hat. Der protestantischen Kirche ist Luthers Übersetzung das geworden, was die katholische Kirche in einem reichen System von Institutionen besitzt: der Träger ihrer Sichtbarkeit. Deshalb ist schon von Anfang an, gleich nach Luthers Tod, und bis auf den heutigen Tag der Protestant an keinem Punkt so „katholisch“ wie an diesem. Es wäre lebensgefährlich für den Protestantismus, hätte er nicht, und ebenso schon von Anfang an, dieser Neigung zur Buchvergötzung etwas entgegenzusetzen gehabt: die Wortverwaltung. Die Predigt wird vom Pfarrer unter Zurateziehung des Urtexts vorbereitet; und wo das auch nicht geschicht, geschah doch wenigstens die Vorbereitung der Vorbereitung am Text; die Professoren, bei denen der Landpfarrer einst hörte, haben aus dem Urtext doziert. Trennung von Geistlichen und Laien wird dadurch freilich gesetzt, aber eben durch die Predigt auch wieder überbrückt. Und was die Predigt allsonntäglich erreicht, das haben geschichtlich die seit Luthers Tod nie ganz aussetzenden Revisionsbestrebungen gewirkt, die sich um die Wende des siebzehnten und in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts je zu einem großen Werk verdichteten, der „Cansteinschen“ und der heutigen „revidierten Lutherbibel“, beide genährt von der germanistischen Wissenschaft ihrer Zeit7, beide auf Luthers echten Wortlaut vielfach wieder zurückgehend, doch beide getragen von dem Willen, sein Werk für die Kirche brauchbar und für das Kirchenvolk lesbar zu erhalten. Beiden ist es geglückt. Die Cansteinsche Bibel hat den Text geschaffen, aus dem die Klassiker ihr Deutsch gelernt haben, das die Sprache vor der drohenden Romanisierung gerettet hat. Das Revisionswerk des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts wird von aller Welt außerhalb der Philologenkreise für die wirkliche Lutherbibel gehalten, schon dadurch den aus genialen Blitzen und gelehrten Borniertheiten sonderbar gemischten Protest Lagardes8 widerlegend, der ihren Vätern, voran dem gedankenreichen Franz Delitzsch, grade das vorwarf, was ihr höchstes Verdienst war: daß sie nicht nur nicht Luther nach dem „Stande der Wissenschaft“ (von 1885), vor allem nach den, doch sogar von Olshausen angenommenen(!), Ergebnissen Paul de Lagardes umschrieben, sondern sogar ihre eigene in Delitzschs wissenschaftlichen Übersetzungen niedergelegte bessere Einsicht meistens zurückstellten.

      So legt sich noch heute, und soweit von diesem Heute aus ein in diesem Deutschland eingewurzeltes Herz blicken mag und blicken darf, dem Unterfangen einer neuen Bibelübersetzung ein aus drei Einmaligkeiten geflochtener Verhau in den Weg: Einmaligkeit des kircheversichtbarenden, Einmaligkeit des schriftsprachegründenden, Einmaligkeit des weltgeistvermittelnden Buchs. Niedergelegt kann dieser dreifache Verhau nicht werden und darf es nicht. Aber übersprungen werden kann und darf und muß er. Muß er – schon um ohne Gefahr stehenbleiben zu dürfen.

      IV

      Denn die Stimme dieses Buches darf sich in keinen Raum einschließen lassen, nicht in den geheiligten Innenraum einer Kirche, nicht in das Sprachheiligtum eines Volks, nicht in den Kreis der himmlischen Bilder, die über eines Landes Himmel ziehen. Sie will immer wieder von draußen schallen, von jenseits dieser Kirche, von jenseits dieses Volks, von jenseits dieses Himmels. Sie verwehrt nicht, daß ihr Schall sich echohaft in Räume verfängt, aber sie selber will frei bleiben. Wenn sie irgendwo vertraut, gewohnt, Besitz geworden ist, dann muß sie immer wieder aufs neue als fremder, unvertrauter Laut von draußen die zufriedene Gesättigtheit des vermeintlichen Besitzers aufstören. Dies Buch, es allein unter allen Büchern der Menschheit, darf nicht im Schatzhaus ihres Kulturbesitzes sein Ende finden; weil es nämlich überhaupt nicht enden soll. In der Bibliothek jenes Schatzhauses liegen alle Bücher, die je geschrieben sind; die meisten verstaubt, vergessen, selten einmal gefordert; manche täglich verlangt. Auch die Bibel liegt in diesen Magazinen, in vielen hundert Sprachen, Sprachen der Völker, Sprachen der Künste, Sprachen der Wissenschaften, Sprachen der Institutionen, Sprachen der Programme. Ihre Ausleihziffer ist höher als die jedes andern Buchs, und trotzdem sind stets noch Exemplare vorhanden. Da betritt irgendein Besteller die Ausleihe und verlangt sie. Der Diener kommt zurück: kein Exemplar mehr vorhanden. Die Bibliothekare sind entsetzt, verzweifelt, ratlos: eben, als Frau Professor Vorgestern für ihren Mann eine holte, standen noch alle Regale voll. Um dieses einen Bestellers willen ist sie geschrieben.

      Es ist historisch gesehen kein Zufall, daß wenigstens bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein noch die innere Kirchengeschichte des deutschsprachigen Protestantismus sich an ihr abspielte. Seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts treten, vorerst meist in grotesker Gestalt, die Versuche auf, sie zu ersetzen, – karikaturhafte Randzeichnungen zu einem sehr ernsten historischen Text: dem Wanken des alten festumschriebenen Glaubensbegriffs, der, wie zu Beginn gezeigt, die bis ins einzelne formbestimmende raft der Lutherschen Übersetzung war. Heute ist dieser Prozeß, in seiner negativen Hälfte wenigstens, zum Abschluß gekommen; denn auch die verschiedenen Orthodoxieen, auch wenn sie in den öffentlichen Formulierungen Rücksicht auf den Zusammenhang mit dem eigenen Mittelalter und mit dessen Spätlingen in ihren Reihen nehmen zu müssen meinen, begründen doch vor sich selber ihren Glauben nicht mehr mittelalterlich. Aber positiv hat der Prozeß, obwohl auch diese Seite schon gleich mit seinen Anfängen anfängt, erst begonnen; auch das zeigt sich am deutlichsten an den Orthodoxieen, nämlich an ihrem hemmungslosen Mitmachen der gegnerischen