sich nicht zum Chor. Trotzdem ist, was er zu sagen hat, wenn es nur Wort um Wort aus echter Erfahrung geschöpft ist, nicht „subjektiv“; und die Lieblingswissenschaft des modernen gelehrten Schilda, die mit schildbürgerlichem Ernst das Fernrohr auseinandernimmt, weil sie hofft, darin die Sterne zu finden, die „Religionspsychologie“, hat an ihm ihr Spiel verloren.
Dieser Mensch ist kein Gläubiger, aber auch kein Ungläubiger. Er glaubt und er zweifelt. Er ist also nichts, aber er lebt. Genauer: er hat Glauben oder Unglauben nicht, sondern Glaube und Unglaube geschehen ihm. Ihm liegt nichts ob, als dem Geschehen nicht davonzulaufen, und wenn es geschehen ist, ihm zu gehorchen. Das klingt beides, solange man weit vom Schuß ist, wie nichts; es ist aber so schwer, daß wohl keiner lebt, der es immer, – nein, wohl keiner, der es mehr als seltene gezählte Male fertiggebracht hat.
Wer so lebt, kann an die Bibel nur herantreten mit einer Bereitschaft zum Glauben und Unglauben, nicht mit einem umschreibbaren Glauben, den er in ihr bestätigt findet. Doch ist auch seine Bereitschaft unumschrieben, unbegrenzt. Ihm kann alles glaubhaft werden, auch das Unglaubenswürdige. Ihm ist nicht das Glaubenswürdige eingesprengt zwischen nicht Glaubens-, also doch Unglaubenswürdiges, wie Metalladern in Gestein, oder jenes mit diesem verbunden wie das Korn der Ähre mit ihrem „strohernen“ Anteil; sondern wie ein Scheinwerfer für eine Weile ein Stück der Landschaft aus dem Dunkel heraushebt, dann wieder ein andres, dann abgeblendet wird, so erhellen diesem Menschen die Tage seines Lebens die Schrift und lassen ihn in ihren Menschlichkeiten heut hier und morgen da – und das Heut übernimmt keine Bürgschaft für ein Morgen – das mehr als Menschliche erkennen. Im Menschlichen selbst; sie ist überall menschlich. Aber allerorten kann dieses Menschliche unter dem Lichtstrahl eines Lebenstages durchsichtig werden, derart, daß es diesem Menschen plötzlich in die eigene Herzmitte geschrieben ist und ihm das Göttliche im menschlich Geschriebenen für die Dauer dieses Herzschlags ebenso deutlich und gewiß ist wie eine Stimme, die er in diesem Augenblick in sein Herz rufend vernähme. Nicht alles in der Schrift gehört ihm, – heute nicht und nie. Aber er weiß, daß er allem gehört. Diese Bereitschaft, sie allein, ist, auf die Schrift gewendet, sein Glaube.
Ist es nicht klar, daß auf dem Grunde solchen Glaubens die Schrift anders gelesen und also auch anders gemittelt werden muß als Luther las und mittelte? Muß nicht jener Grund, der Luther veranlaßte, bisweilen der hebräischen Sprache Raum zu lassen und die deutsche Sprache auszuweiten, bis sie sich der hebräischen Worte gewohne, nämlich wo es um die „Lehre“ und den „Trost unsres Gewissens“ ging, muß nicht jener Grund uns, die wir nicht wissen, aus welchem Wort die Lehre und der Trost fließen werden, und die glauben, daß die verborgenen Quellen der Lehre und des Trostes aus jedem Wort dieses Buchs einmal aufbrechen können, uns also zu einer neuen Ehrfurcht vor dem Wort beugen? einer Ehrfurcht, die notwendig auch unser Lesen, unser Verstehen, und also unser Übersetzen erneuern wird?
V
Alles Neue hat seine Vorgeschichte, zum mindesten eine negative, die „Erbschaft“, von der Goethe einmal zu Eckermann sprach. Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts läuft eine ganze Wissenschaft nach dem Kampfziel der Vermenschlichung der Schrift. Gewiß war dies wissenschaftliche Ringen befangen in einer merkwürdigen Verwechslung der beiden Fragen: Was sagt das? und: Was hat der Schreiber damit sagen wollen? – einer Verwechslung, deren Recht doch dieselben Gelehrten etwa als Rezensenten mit gutem Grund energisch zurückgewiesen hätten. Trotzdem hat diese Bewegung wenigstens ihr kritisches Ziel erreicht: der als goldener Reif oder als goldene Scheibe um das Buch gelegte Heiligenschein umgibt es heute nicht mehr. Daraus zu schließen, daß es darum nicht heilig sei, wäre so naiv, als wenn man den alten Malern zutrauen wollte, sie hätten sich vorgestellt, der heilige Franz wäre wirklich mit so einem Metallring um den Kopf herumgelaufen. Was die Legende aus dem Mund von Augenzeugen über Strahlerscheinungen berichtet, haben sich die Künstler in die Formen, die allgemeinen und die zeitbesonderen, ihrer Kunst übersetzt; wenn heut einer den Nimbus anders malt, wenn er ihn gar nicht malt, so braucht er um nichts weniger an die Heiligkeit des Heiligen zu glauben; einen Glauben an die Ausdrucksform einer vergangenen Zeit binden zu wollen, ist eine billige Ausflucht von Leuten, denen in ihrer Haut unheimlich wird bei dem Gedanken, jemand „in unsrer Zeit“ könne glauben. Die kritische Wissenschaft hat sich jenes Fehlschlusses nicht schuldig gemacht. Sie hat mehr oder weniger bewußt von Anfang an auch einen neuen Begriff der Heiligkeit der Schrift zu bestimmen gesucht. Daß sie bei diesem Versuch regelmäßig wieder in die Nähe des starren, abteilenden Offenbarungsbegriffs des alten Dogmas geriet, liegt vielleicht nicht so sehr, wie dem Juden naheliegt zu vermuten, an konfessioneller Befangenheit, als vielmehr an jener geschilderten Verwechslung dessen, was in das Buch hineingeschrieben wurde, mit dem, was aus dem Buch herausspricht. Denn geschichtliche Fragestellung, weil sie notwendig zielstrebig ist, zeichnet leicht, auf ein Gegenwärtiges angewandt, die Linien ihrer Zielstrebigkeit auch in dieses hinein, wo sie dann natürlich zu Trennungs- und Umgrenzungslinien erstarren; Goethes Faust, wie er ihn entworfen und niedergeschrieben hat, und wie ihn also der Literaturhistoriker im Kolleg doziert, ist ganz und gar nicht der, den er geschrieben hat; der ist viel eher der, den ein Schuljunge mit heißen Backen aus dem Reclamheftchen liest.
Der Kampf der Wissenschaft um die neue menschliche Heiligung der Schrift spiegelt sich nun auch in den Übersetzungsversuchen, die ihr wie aller Philologenarbeit zur Seite gehen, und von denen ja einer, der von Kautzsch und zehn andern Gelehrten unternommene, mit der „zur Erbauung des Bibellesers“17 veranstalteten kommentarlosen Ausgabe in vielen Zehntausenden von Exemplaren verbreitet ist und mit Recht in dem Ruf steht, das Ergebnis der anderthalb Jahrhunderte alttestamentlicher Wissenschaft zu bieten. Mit Recht – es ist wirklich eine ganze Wissenschaft, die in ihm zu Worte gekommen ist; wenn im Folgenden gezeigt wird, daß diese Wissenschaft, um ihr eigenes Ziel zu erreichen, nicht wissenschaftlich genug ist, so geht das gar nicht auf den einzelnen Gelehrten, von dem etwa das grade angezogene Übersetzungsbeispiel stammt, sondern wirklich auf die Wissenschaft selber, von der der einzelne Forscher nur ein Exponent ist, auf den Anspruch also an Exaktheit, und das heißt doch wohl: an Wissenschaftlichkeit, den die Wissenschaft an sich selber stellt.
Jenes Bibelwerk gibt als seinen eigenen Zweck an: „jeder Art von Lesern den Inhalt des Alten Testaments, so wie es mit den Mitteln der heutigen Schriftforschung geschehen kann, in klarem heutigem Deutsch zu vermitteln“18. In dieser Formulierung ist schon ausgesprochen, was der Übersetzerarbeit dieser Wissenschaft – und übrigens nicht dieser allein, sondern dem Übersetzergewissen in allen Zweigen der Philologie – zur wirklichen Gewissenhaftigkeit fehlt. Denn, es ist fast beschämend, solche Selbstverständlichkeiten auszusprechen, aber doch nötig, – denn man kann den Inhalt nicht vermitteln, wenn man nicht zugleich auch die Form vermittelt. Für das, was gesagt wird, ist es nicht nebensächlich, wie es gesagt wird. Der Ton macht die Musik. Das Kommando: Stillgestanden! ist zwar „inhaltlich“ identisch mit dem: Bitte stillgestanden! eines zarten Kunsthistorikers und Etappenleutnants und auch mit der „inhaltlich“ einwandfreien Satzumformung: ich befehle euch, stillzustehn; dasselbe ist es nicht. Und doch: so, genau so, wird „wissenschaftlich“ übersetzt. Das klingt übertrieben, aber was ist es andres, wenn etwa in der Erzählung des Ereignisses am Schilfmeer – ich nehme die Beispiele alle aus dem zweiten Buch Moses, das in jenem Bibelwerk von zwei Gelehrten umschichtig übersetzt und jüngst von einem dritten neubearbeitet19 ist und also schon dadurch ein guter Repräsentant des allen Gemeinsamen – in wenigen aufeinanderfolgenden Sätzen (14, 19 ff.): „da änderte … seine Stellung“, „brachte … zum Weichen“, „nahmen die Verfolgung auf“, „brachte … in Verwirrung“ für schlichtes hinwegzog, zurücktrieb, setzten nach, verschreckte des Originals steht. Vielleicht gibt es in einem stilistisch so verschiedenartigen Buch wie der Bibel auch Stellen, für die dieses Deutsch eines kleinstädtischen Amtsblättchens das richtige zur Übersetzung ist. Über die ganze Erzählung ohne Unterschied ausgegossen, verfälscht es den Ton und damit auch die „Musik“. Freilich läßt dann gleich die wissenschaftliche Übersetzung die Wasser „zurückfluten“; aber gerade für diesen „starken sinnlichen Realismus“ muß das Original die Verantwortung ablehnen, das