Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman


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Regine. »Aber wie kommst du darauf?«

      »Lucies Kleid sieht so sonderbar aus.«

      »Inwiefern?«, fragte Schwester Regine verblüfft.

      »Es ist irgendwie …, irgendwie anders als unsere Kleider. Die Ärmel sind weder kurz noch lang, und der Rock ist auch so komisch. Nicht richtig weit, aber auch nicht glockig – eben komisch. Und der Stoff erst! So einen Stoff habe ich noch nie gesehen.«

      »Ich verstehe nicht, was du daran auszusetzen hast. Gut, das Kleid ist ziemlich verwaschen, aber ansonsten durchaus in Ordnung. Ich kann mich noch dunkel erinnern, dass ich ein ähnliches besaß, als ich noch ein Kind war. Nur war meines nicht grün, sondern blau und …« Verwirrt hielt Schwester Regine inne. Natürlich, das war es! Auch die Kinderkleidung war dem Wandel der Mode unterworfen, und das Kleid, das Lucie trug, war vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren modern gewesen.«

      »Vielleicht sind ihre Eltern arm und haben nicht genug Geld, um Lucie neue Kleider zu kaufen«, mutmaßte Schwester Regine.

      »Dann schau dir einmal ihre Schuhe an«, entgegnete Vicky. »Die sind funkelnagelneu und machen keinen billigen Eindruck.«

      »Dass du immer über Kleidung reden musst«, sagte Henrik tadelnd zu Vicky. »Das ist doch gleichgültig. Vielleicht haben sich Lucies Eltern bei den Schuhen so sehr verausgabt, dass es für ein neues Kleid nicht mehr langte.«

      Damit war das Thema für Henrik erledigt. Auch Vicky wagte es nun nicht mehr, sich dazu zu äußern.

      *

      Da Lucie auch nach der Ankunft in Sophienlust beharrlich schwieg und nur mit großen erstaunten Augen ihre Umgebung musterte, gaben die Kinder ihre Versuche, ein paar Worte aus ihr herauszulocken, schließlich auf. Das legte auch Denise ihnen nahe. »Bedrängt die Kleine nicht«, meinte sie. »Mit der Zeit wird sie schon aus sich herausgehen und Freundschaft mit euch schließen.«

      Heidi war enttäuscht. Lucie war zwar kleiner und sichtlich auch jünger als sie, trotzdem hatte Heidi gehofft, in ihr eine Spielgefährtin zu finden. Aber Lucie betrachtete sie gar nicht, sondern blieb meist bei der Huber-Mutter, zu der sie ein gewisses Zutrauen gefasst zu haben schien.

      Beim Abendessen platzierte Schwester Regine Lucie jedoch zwischen Pünktchen und Irmela und trug den beiden großen Mädchen auf, der Kleinen beim Essen und vor allem beim Schneiden des Fleisches behilflich zu sein.

      »Schimpft nicht mit ihr, wenn sie kleckert«, sagte Schwester Regine. »Sie ist ja auch noch so klein.«

      Doch dann überraschte Lucie alle Anwesenden. Sie saß ruhig auf dem hohen Sessel, den das Hausmädchen Lena für sie bereitgestellt hatte, und harrte der Dinge, die da kommen würden.

      Als die Suppe aufgetragen worden war, und alle zu essen begannen, griff auch Lucie zu ihrem Löffel und aß ihren Teller leer, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten. Pünktchen und Irmela warfen ihr hin und wieder einen staunenden Seitenblick zu, schwiegen jedoch. Als Lucie aber dann das Messer in die rechte und die Gabel in die linke Hand nahm und damit gewandt ihrem Bratenstück zu Leibe rückte, verstieg sich Pünktchen zu einem Lob. »Das ist ja großartig, wie schön du essen kannst«, rief sie.

      Auch die anderen hatten Lucie verwundert beobachtet, und stimmten nun in Pünktchens Lob ein, worauf Lucie verwirrt Messer und Gabel sinken ließ. Der Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag, deutete Nichtbegreifen an, sodass Schwester Regine die übrigen Kinder zum Schweigen brachte.

      Bei der Nachspeise streikte Lucie. Sie schüttelte stumm den Kopf und schien einfach satt zu sein. Sie wurde von der Huber-Mutter zu Bett gebracht, während sich die Zurückgebliebenen über Lucies ausgezeichnete Tischmanieren wunderten.

      »Sie kann nicht viel älter als drei Jahre sein«, sagte Pünktchen. »Kinder in diesem Alter lassen sich manchmal noch füttern. Wo mag Lucie gelernt haben, so gut mit Messer und Gabel umzugehen?«

      Die Kinder beschlossen, Denise gleich am nächsten Tag von Lucies Künsten zu erzählen. »Ich bin neugierig, was Tante Isi dazu sagen wird«, meinte Irmela. »Sie muss Lucie unbedingt einmal beim Essen zusehen.«

      »Behandelt Lucie nicht wie ein Ausstellungsstück«, warnte Schwester Regine. »Ihr schadet ihr womöglich damit. Sie ist ohnehin so eigenartig.«

      »Eigenartig? Was willst du damit sagen?«, erkundigte sich Irmela.

      »Nichts, gar nichts«, erwiderte Schwester Regine schnell.

      Frau Rennert, die Heimleiterin, die Lucie freundlich willkommen geheißen hatte, ohne dass das Kind darauf reagiert hatte, öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann jedoch und schwieg.

      *

      Auch in Schoeneich, dem Stammsitz der Familie von Schoenecker, war Lucie der Gegenstand lebhafter Erörterungen. Nick und Henrik hatten ihrem Vater von den Ereignissen dieses Tages erzählt und warteten nun gespannt auf dessen Kommentar.

      »Ja, das ist eine merkwürdige Geschichte«, meinte Alexander von ­Schoenecker.

      »Woher das Kind nur gekommen sein mag«, sinnierte Nick. »Ich muss dauernd an diese Frau Harlan denken. Sie war mir ganz und gar nicht geheuer.«

      »Ja, ich weiß, du hältst sie für eine Hexe«, bemerkte Denise trocken.

      »Was – du, in deinem Alter?«, versuchte Alexander Nick zu necken. Er wurde von Henrik unterbrochen. »Und ihr habt mich zu dem Haus im Wald nicht mitgenommen!«, beschwerte sich der kleine Junge.

      »Du hast nichts versäumt«, meinte Denise.

      »Aber ich hätte auch gern einmal eine Hexe kennengelernt.«

      »Hör auf, so spricht man nicht über andere Leute …«

      »Du selbst hast damit begonnen!«, riefen die männlichen Mitglieder der Familie im Chor.

      »Nun ja, ich gebe zu, Frau Harlan sah nicht hübsch aus, und sie war außerdem sehr unfreundlich – aber möglicherweise war ich voreingenommen. Im Übrigen können wir die alte Frau vergessen.«

      »Meinst du?«, fragte Nick gedehnt.

      »Gewiss. Bist du anderer Meinung?«

      »Hm … Warum, glaubst du, war Frau Harlan eigentlich so unfreundlich zu uns? Wir haben ihr doch nichts getan. Stell dir die Szene einmal anders vor. So, wie sie meiner Ansicht nach hätte sein müssen. Wir läuten, die alte Frau öffnet, sieht das Kind und fragt uns teilnahmsvoll, woher wir das haben. Jeder würde so reagieren, wenn schon nicht aus Mitgefühl, so zumindest aus Neugierde. Du warst übrigens diejenige, die gleich sagte, dass Frau Harlans Verhalten verdächtig sei.«

      »Vielleicht war sie aus irgendeinem Grund, der mit uns nichts zu tun hatte, schlecht aufgelegt …«

      »Sie hat Lucie die Arme entgegengestreckt«, erinnerte Nick seine Mutter. »Hast du vergessen, wie das Kind reagierte, als wir uns dem Haus näherten? Es war außer sich und maßlos aufgeregt.«

      »Nein, das habe ich nicht vergessen«, erwiderte Denise. »Aber Lucie ist so eigenartig …« Ohne es zu wissen, gebrauchte Denise den gleichen Ausdruck wie Schwester Regine.

      »Sobald Lucies Bild in den Zeitungen und im Fernsehen erscheinen wird, werden ihre Angehörigen sich melden. Dann wird sich alles aufklären. Es ist also sinnlos, dass ihr euch den Kopf zerbrecht«, bemerkte Alexander von Schoenecker.

      Damit war die Diskussion vorläufig beendet. Aber eben nur vorläufig. Denn als einige Tage verstrichen waren und sich niemand gemeldet hatte, um Lucie abzuholen, flammte die Debatte erneut auf.

      In Gegenwart seiner Mutter und Schwester Regine meinte Nick nachdenklich: »Merkwürdig?– Lucies Eltern bleiben nach wie vor verschollen. Sie müssten doch längst das Foto des Kindes in den Zeitungen entdeckt haben. Abgesehen davon begreife ich nicht, dass sie keine Vermisstenanzeige gemacht haben. Bei der Polizei ist noch immer keine eingelaufen.«

      »Ja«, erwiderte Schwester Regine, »ich ahne, woran du denkst. Es drängt sich einem ja geradezu der Schluss auf, dass die