der wenig mehr als einen Unfall erkennen läßt: Sicher geworden in den buchstabilen Regionen großer Gebärden, riskiert May es einmal, den auf Erden verbliebenen Rest seines Ich sie imitieren zu lassen; einmal versucht er eine praktische Anleihe bei der wachsend stärkeren Imagination; – daß die Dämpfung so jäh und grob auf ihn niederkommt, erklärt, warum nun um so längere Zeit in um so sorgfältigerer Behutsamkeit verstreicht. Fast 20 Jahre dauert es, bis May – dann allerdings in großem Stil – die Identifizierung mit seinem abseits restaurierten Ich ein zweites Mal unternimmt: um ein zweitesmal, in großem Stil, damit zu scheitern …
In der Nacht zum 26.1.78 stirbt der einzige Sohn des alten Pollmer, Emil Eduard (geb. 1828), unter mysteriösen Umständen im Pferdestall eines Gasthofs zu Niederwürschnitz.[14] Die Sache wird untersucht und als Unfall ad acta gelegt; doch damit ist der alte Pollmer nicht zufrieden. Auf seine Veranlassung hin begibt sich May am 25.4. an den Tatort (und ins benachbarte Neuölsnitz), um zu recherchieren, – und da kann er es, von alten Erinnerungen gepackt, nicht lassen und gibt sich bei seinen Vernehmungen ohne weitere Umstände für Gott den Allmächtigen aus (id est: – und die Definition stimmt ja genauer, als es den Anschein hat –: als »höherer, von der Regierung eingesetzter Beamter«, der noch über dem zuständigen Staatsanwalte stünde). Doch die Dorfbürger glauben ihm das Inkognito weit weniger, als man annehmen möchte; wie stets auch findet sich ein Gendarm, der unübliche Erscheinungen zur Anzeige bringt (in diesem Fall hieß er Oswald und stammte aus Ölsnitz); und am 15.5. geht an die Staatsanwaltschaft Chemnitz die pflichterfüllende Denunziation, es handle sich bei dem gedachten Höheren um den berüchtigten, vielfach vorbestraften »Socialdemokraten« Karl May. Der trägt nun am 11. und 20.6. bei der Dresdener Behörde seine Version des Falles vor, doch am 24.6. beschließt das Bezirksgericht Chemnitz, die Untersuchung »wegen Ausübung eines öffentlichen Amtes« lt. § 132 RStGB gegen ihn einzuleiten. May unternimmt nun (unter Aufgabe seiner Dresdener Stellung) allerlei Reisereien, vermutlich in der Hoffnung, der läppische Fall werde sich am besten in seiner Abwesenheit von selbst erledigen. Aber davon ist keine Rede, und als er Ende August wieder in Hohenstein eintrifft (wo er in der Pollmer-Wohnung am Markt[15] bis Ende Januar 1879 bleibt), erreicht ihn alsbald die Vorladung; sogar eine Inhaftierung wegen Fluchtverdachts wird erwogen. Es folgen zermürbende Wochen; am 9.1.1879 verhängt das zuständige Amtsgericht Stollberg in 1. Instanz 3 Wochen Gefängnis; weitere Zeit verstreicht über Einspruch und – nach Bestätigung des Urteils in 2. Instanz am 12.5. – Gnadengesuch an den König Albert; und langsam bröckelt über der gräßlichen Aufregung die anfängliche Sicherheit, ja Arroganz von May ab – bis nur noch der demütige Bittsteller übrig ist, dem man doch die Schande, in der eigenen Heimatstadt einsitzen zu müssen, ersparen möge. Aber nichts wird ihm erspart; das Urteil bleibt aufrecht, so tönern auch die Paragraphenfüße sind, auf die es sich stützt, und so durchaus fehlerhaft die langatmige Untersuchungsführung war; vom 1. bis 22.9. 1879 verbüßt Karl May im Gefängnis des Gerichtsamtes Hohenstein-Ernstthal seine letzte Strafe …
Daß er sich anschließend, schlimm mitgenommen von der Demütigung, aus der engeren Heimat entfernt, ist nur begreiflich; zuletzt auch scheint die Flucht in nun pausenlos rotierende ›freie‹ Brotarbeit ein Zurückweichen vor der Frau gewesen zu sein, in der er sein Unheil wittert – und nicht nur wittert –, ohne jedoch von ihr loszukommen. So eindeutig auch die späten Konfessionen an allzu viele praktische Zwecke geheftet waren, als daß sie mehr als ein künstliches Reißbrett-Produkt ergeben hätten, ein Dokument der Zeit bestätigt auch kühnere Vermutungen, und immer wird der sonst ganz triviale Roman ›Scepter und Hammer‹ (erschienen ab Oktober 1879 im Stuttgarter ›All-Deutschland‹) um seines IX. Kapitels[16] willen Interesse behalten: das Porträt der Emma Vollmer und ihres armen Karl geht über alle theoretische Beschreibung …
In Hohenstein scheint Emma bereits länger schon für Mays Frau gegolten zu haben; bei einer Vorladung im Stollberg-Verfahren gab er selbst sie dafür aus.[17] Und sonderbare Gewissens-Konstruktionen stellen sich ein: Als gerecht denkender Mann warf ich mir vor, sie in Dresden bei mir aufgenommen und damit, wenn auch nicht die wirkliche Ehre, so aber doch ihre Ehre vor den Menschen geschädigt zu haben. Ich war verpflichtet, das wieder gut zu machen …[18] Hinzu kommt der Tod des alten Pollmer (26.5.1880): dem vom Schlaganfall gelähmten Sterbenden verspricht er, die Enkelin nicht zu verlassen. Und was zur Ausführung des Entschlusses noch fehlt, wird dieselbe Enkelin leicht erreicht haben; Wahrscheinlichkeit genug hat die Annahme für sich, daß zum Anfang dieser Ehe der Spiritismus ebenso mitgeholfen hat, wie er dann nach 22 Jahren das Ende dirigierte. Pollmers Geist erscheint: Man sah ihn nicht, aber er sprach durch das Medium. Er sagte, er sei »im Himmelreich«. Auch sein Sohn kam, der zu Grunde gegangene Vagabund. Meine Frau nannte ihn Onkel Emil. Er sagte, er sei »im Himmelreich«. Dann kam die verstorbene Frau des alten Pollmer, die von meiner Frau nicht Großmutter, sondern Mutter genannt wurde. Sie sagte, sie sei »im Himmelreich«. Und endlich kam auch die während der Geburt gestorbene, eigentliche Mutter, die von meiner Frau aber ›Mama‹ genannt wurde. Sie sagte, sie sei »im Himmelreich«. So wohnte also die ganze liebe Familie »im Himmelreich«, und heute waren diese vier Engel von da droben herabgestiegen, um den verblendeten Mann ihres noch auf der Erde weilenden Kindes in das Gebet zu nehmen und ihm den Kopf zurecht zu setzen. Die vier Geister von Großpapa, Onkel, Mutter und Mama sprachen theils solo, theils tutti in einer Weise auf mich ein, daß ich innerlich ganz breitgeschlagen wurde …[19]
… und so nimmt ein trübes Geschick denn seinen Lauf: Im Jahre 1880, kurz nach dem Tode ihres Großvaters, habe ich dann meinem Versprechen gemäß die Emma Pollmer aus Mitleid, Gerechtigkeitsgefühl und in der Hoffnung, daß ich mit ihr glücklich werden würde, geheiratet[20]: am 17.8. vor dem Ernstthaler Standesamt, am 12.9. vor dem Altar von St. Christophori: Das Band, das Band, das man die Ehe nennt! / Verhaßt, verhaßt, mir fürchterlich verhaßt …[21]
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